: Die christliche geprägte Kernfamilie
BÜHNE Der US-amerikanische Dramatiker Richard John Nelson zeigt sein mehrteiliges Familiendrama über die letzte Präsidentschaftswahl beim FIND Festival an der Schaubühne am Lehniner Platz
Interview Sascha Ehlert
taz: Herr Nelson, „The Gabriels: Election Year in the Life of one Family“ spielt in Rhinebeck, einem Städtchen mit 7.500 Einwohnern im Bundesstaat New York. Erzählt das Stück eine persönliche Geschichte?
Richard Nelson: Nun, ich kenne Rhinebeck sehr gut, da ich dort seit mehr als 30 Jahren lebe. Und ja, ich wollte mit diesem Stück schon die Geschichte von Menschen erzählen, die in dieser Stadt leben, aber nicht wirklich meine eigene beziehungsweise die meiner Familie.
Sind die Figuren also eher idealtypisch angelegt, also so, dass sich ein möglichst großer Teil der Zuschauer mit ihnen identifizieren kann?
Ja und nein. Vor ein paar Jahren habe ich hier beim FIND Festival meine „Apple Family Plays“ gezeigt. Diese Stücke fanden ihren Weg nach Deutschland, weil Tobias Veit von der Schaubühne sie in New York gesehen hatte. Im Anschluss fragte er mich, ob wir einen Drink zusammen nehmen würden. Letztlich saßen wir dann drei Stunden lang zusammen und in dieser Zeit erklärte er mir, warum er das Gefühl hatte, dass meine Stücke gut nach Berlin passen würden. Ich dachte, die „Apple Family Plays“ wären viel zu vollgepackt mit spezifischen Referenzen, die man als Europäer nicht versteht. Tobias war der Meinung, dass die Europäer die Verunsicherung und den Frust meiner Figuren genauso würden nachvollziehen können – was sich als wahr herausstellte. Ich lernte dadurch, sehr spät, dass eine Geschichte umso allgemeingültiger wird, je spezifischer du wirst. Darüber hinaus ist die „Familie“ als Kern der Handlung natürlich ein sehr universelles Thema.
Die christliche geprägte Kernfamilie ist immer noch eines der zentralen Themen der amerikanischen Literatur. Aus der amerikanischen Sicht: Spielt die Familie in der amerikanischen Literatur eine noch größere Rolle als in der deutschen?
Nun, ich will nicht für alle sprechen, aber ich kann vielleicht erzählen, wie ich zur Familie gekommen bin: Als junger Autor schrieb ich Figuren, die eine bestimmte politische Sichtweise ausdrückten, die wiedergaben, was ich über die Welt dachte. Im Lauf der Zeit, vor allem in den Neunzigern, lösten sich viele Dinge, derer ich mich sicher glaubte, auf, weshalb ich mich fragen musste: Wie spreche ich jetzt über meine Gesellschaft, über mein Land? Wie rede ich über die USA, ohne dass ich ideologisch werde? Dies war eine Zeit lange die zentrale Frage an mich selbst als Künstler und sie führte mich zurück zu meinem Tschechow, der mir immer wichtig gewesen war. Genauso schaute ich auf Ibsen und auf Eugene O’Neill und auch August Strindberg. Im Werk von jedem dieser Autoren spielt die Kernfamilie eine große Rolle, allerdings erzählen ihre Stücke in Wahrheit viel mehr als „nur“ eine Familiengeschichte, weil durch eine spezifische Gruppe zum Beispiel bei Tschechow immer auch die gesamte Gesellschaft gezeigt werden soll. Die Familie bietet für mich als Autor einfach gute Möglichkeiten über die Dinge auf eine Art und Weise zu sprechen, die nicht direkt ideologisch geprägt ist.
Seit 17 Jahren bringt das Festival FIND internationale neue Dramatik nach Berlin an die Schaubühne. Das diesjährige Motto – „Demokratie und Tragödie“ – berührt Theatergeschichte und Gegenwart gleichermaßen. Schon in den Tragödien der Antike ging es um die demokratische Verfasstheit und die Möglichkeiten, Macht anzuhäufen und zu missbrauchen. Während der Festivalplanung, „entwickelten sich unsere westlichen Demokratien immer mehr zu Tragödien“, stellte Thomas Ostermeier, künstlerischer Leiter des Festivals, fest.
Eingeladen sind 13 Inszenierungen aus Europa, Iran, den USA und lateinamerikanischen Ländern. Ungewöhnlich oft thematisieren sie Gemeinwesen, Arbeitsverhältnisse, Mindestlohn, Korruption, Rechtspopulismus. Der Regisseur Richard Nelson aus New York hat sich in einer Trilogie sogar mit dem Wahljahr 2016 in den USA beschäftigt. Die Produktion wird zu Beginn des Festivals gezeigt.
Wie kam es überhaupt im Jetzt dazu, dass Sie anfingen ein mehrteiliges Stück über das US-amerikanische Wahljahr 2016 zu schreiben?
Nun, die „Apple Family Plays“ beschäftigen sich ja ebenfalls mit Wahlen, ebenso wie sie auch in Rhinebeck spielen. Nachdem ich mit den „Apple Family Plays“ fertig war, hatte ich die Idee mich noch einmal mit einer anderen Familie auseinanderzusetzen und drei Stücke zu schreiben, die alle drei um das selbe nationale Ereignis kreisen – und das offensichtlich anstehende nationale Ereignis war die Präsidentschaftswahl. Ich wollte herausfinden was passiert, wenn man ein Stück inszeniert, indem die Figuren gerade das selbe durchmachen, wie das Publikum in seinem eigentlichen Leben fernab der Bühne. Was diese spezifische Wahl angeht: Niemand wusste was passieren würde, als wir anfingen an dem Stück zu arbeiten. Ich nahm an, dass es eine Frau geben würde, die im Wahljahr eine wichtige Rolle spielen würde, weshalb fünf der sechs Personen im Stück Frauen sind. Vier von ihnen sind zwischen 50 und 60, die fünfte ist Achtzig Jahre alt.
Der dritte Teil des Stücks heißt überdies „Women of a certain age“. Erzählt „The Gabriels“ also auch eine Geschichte über Frauen in Amerika?
Ich denke, die Geschichte handelt von einer Generation. „Women of a certain age“ zu fünft auf der Bühne zu sehen, ist außerdem immer noch etwas Seltenes. In den USA sieht man höchst selten mehrere Schauspielerinnen zwischen 50 und 60 auf der Bühne, weil die Protagonisten vieler Stücke a) vor allem männlich oder b) junge Frauen sind. Dabei verfügen Schauspielerinnen in ihren Fünfzigern oft über erstaunliches Können. Ich würde nicht so weit gehen zu sagen, dass „The Gabriels“ ein Stück über die Frau in der amerikanischen Gesellschaft ist, vielmehr erzähle ich von Frauen meiner Generation und versuche herauszufinden, was sie bewegt. Der letzte Teil des Stücks spielt ja am Wahlabend, endet aber bevor das Wahlergebnis feststeht. Die Figuren erfahren nie, wer gewonnen hat. Genauso war die tatsächliche Wahl noch nicht entschieden, als die Premiere des Stücks vorbei war. Das heißt: Es geht mir auch überhaupt nicht um die Wahl an sich, sondern um das Wahljahr. Wir sehen einer Familie an drei Tagen dabei zu, wie sie leben. Die Wahl ist dabei eher ein unter der Oberfläche schwelender Konflikt, der ab und an hoch poppt, aber in der Regel von den individuellen Problemen der Familie überlagert wird. Mein Ziel war es zu zeigen, wie die persönlichen Hoffnungen und Ängste der Figuren eins sind mit dem großen Ganzen, dem Politischen, der Gesellschaft.
In der Realität wurde nach der Premiere Ihres Stückes mit Donald Trump jemand Präsident, der in vielerlei Hinsicht die Zeit zurückzudrehen versucht. Was würden die weiblichen Charaktere aus „The Gabriels“, wohl darüber denken, was vier Monate nach der Wahl in Amerika passiert?
geboren 1950 in Chicago, lebt in Rhinebeck, New York, Handlungsort seiner berühmten „Apple Family Plays“. Nelson ist bekannt für seinen Hang zu Familiendramen und seine Vorliebe für Anton Tschechow.
Ich bin mir sicher, sie wären verwirrt. Vielleicht fühlten sie sich auch an ihre Jugend erinnert, als Frauen noch stärker als heute gegen eine von Männern dominierte Gesellschaft ankämpfen mussten, um gehört zu werden. Während der Amtseinführung von Trump spielten wir „The Gabriels“ in Washington, wir waren also auch für den „Women’s March“ in der Stadt, was sehr spannend war. Ich denke, die Frauenfiguren in meinem Stück wissen, dass sie, obwohl sie klar auf der Seite der Demokraten stehen, von dieser politischen Seite nicht gehört werden. Sie fühlen sich durch die Politik nicht unterstützt.
Wenn man als Künstler über das schreibt, was man kennt, hat man natürlich ein Problem: Man untersucht die eigene Seite, in Ihrem Fall die demokratische, aber selten die andere, die republikanische Seite. Wäre es für Sie vorstellbar gewesen, aus den Gabriels Republikaner zu machen?
Das Problem ist mir natürlich bewusst. In Amerika unterstützen nun die meisten Theatergänger liberale politische Kräfte. Und ich will im Theater eine Diskussion mit meinem Publikum eröffnen. Ich möchte, dass sie sich selbst sehen.
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