Berlin: „Tür zu, es zieht, hab ich gesagt!“
von Annabelle Seubert
Komm Se rin“, sagt einer zu sich selbst, als er reinkommt. Und die, die drin sind, stehen am Tresen oder bei den Spielautomaten, die denen eine goldene Zukunft versprechen, die im richtigen Moment auf Stopp drücken. Wenn man fünf „Fancy Fruits“ derselben Sorte hat, fünf Pflaumen oder Melonen. „Krieg ich noch ein Pils?“, fragt eine, die das Glück eben verpasst hat und ihre Münzen in der Hand wendet.
Es ist zu kalt, um draußen zu sein, also ist man hier. Bei Daggi’s Einflug, dem „freundlichen Hort mit betreutem Trinken“ in Berlin-Reinickendorf an der Scharnweberstraße, ein Ort, der zu keiner Zeit schließt. Oben dröhnen die Flugzeuge, die so nah vom Flughafen Tegel starten und in Länder fliegen, wo man im Februar baden kann. Unten gibt es Mittel gegen Fernweh: Billard und Bacardi.
Idnan, „in Pakistan geboren und seit Neunundachtzig in Deutschland“, sitzt auf einem Barhocker und sieht aus, als wäre er lieber woanders. Den Kopf eingezogen, die Jacke noch geschlossen. Sein Arzt habe ihm die falschen Tabletten gegen Schlaflosigkeit verschrieben, sagt er. Bei CinemaxX und Burger King und was weiß er noch alles, habe er gearbeitet, sagt er. Und dann sei da das Mädchen, ach, das Mädchen gewesen: Jasmin, die ihn nie in ihre Wohnung ließ, wenn er ihr nachgereist sei nach Hamburg, wo sie Musik und Karriere machen wollte. „Siebzehn Jahre ist das her.“ Briefe und Rosen habe er geschickt, nachdem er sie betrogen hatte. „Vergib mir“ – er; „Verpiss dich“ – sie.
Jemand ruft: „Tür zu, es zieht!“
Und niemand nimmt Idnan seine Geschichten ab, wenn er vom Stuhl rutscht, sich noch eine Cola bestellt. Alles erfunden, weil er allein sei. „Jasmin Wagner hat er das Mädchen genannt“, zischt wer. „Wie Blümchen, die Sängerin aus den Neunzigern.“
„Hallo? Tür zu, hab ich gesagt!“
Es ist zu früh, um zu Hause zu sein, also ist man hier. Sagt nichts, sagt was. Raucht eine, wischt sich Bierschaum von den Lippen. Murmelt für sich, wenn der Rosenverkäufer die Runde macht: „Ach, der wieder.“
Manne sieht zum Fernseher, Flutlicht und Stadionschnee – SV Sandhausen gegen Schalke, 31. Minute – und Marina, die heute die Abendschicht hat, „Sonnenschein“ nennen sie sie, füllt Erdnüsse in Schalen und sagt: „Ihr müsst auch ’n bisschen jubeln. Die Fahnen schwingen, los!“
Micha kommt auf einen Absacker. Hat seine Schäferhündin dabei, hat sie „Frau Sternburg“ genannt, „weil ich nur ,Sterni‘ trinke“. Rattert sein Leben im Stehen runter – Kippe hinterm Ohr, Jack-Daniel’s-Mütze auf: ’85 bis 2012 Veranstaltungstechniker. Burn-out 2012. Sich also „Micha, jetzt musst du was anderes machen“ gesagt. Jetzt Sozialassistent am Leopoldplatz, „wo die Obdachlosen und die Drogensüchtigen rumhängen“. Vier, fünf Klienten hat er im Monat, sagt er – und betont „Klien-ten“, als traue er dem Wort nicht. Mit ihnen geht er ehrenamtlich zum Jobcenter. Oder zu Vattenfall, wenn der Strom abgestellt ist. „Was halt anfällt.“
Armin kommt vom Hundertsten ins Tausendste. Vom letzten Urlaub, den er in Kuba verbringen wollte, dann aber exakt an dem Morgen landete, als Fidel Castro starb. Diese Staatstrauer! „Konnte es nicht ertragen.“ Wie er schnell weiter nach Mexiko zog und sein Koffer nicht auf dem Gepäckband lag – er, vier Tage ohne frische Kleider. „Vier Tage, hörst du.“ Wie er dann bei einer Frau übernachtet, die sich in ihn verliebte, „ganz nett ja, sah nicht schlecht aus“. Aber irgendwas hat ihn an ihr gestört.
Überhaupt, Mexiko: Dass diese Mauer, die Donald Trump an der Grenze zur USA bauen lässt, je fertig wird – „glaub ich nicht“, sagt Armin. „Vorher erschießt den einer.“
Armin sagt, der Tequila in seinem Tequila Sunrise, den er aus einem lila Strohhalm saugt, sei Schrott. Und dass Journalisten nie über Jugendämter schreiben, sagt er; seiner Tochter seien alle drei Kinder auf einmal weggenommen worden. Rechtswidrig. Seine Enkel wachsen jetzt in einem Heim auf. Die Mittlere habe ihn kürzlich angeschrien: „Ich will aus dem Gefängnis raus!“
Manne, der kurz vom Fernseher aufsieht – Sportfreunde Lotte gegen 1860 München, 75. Minute – sagt, na ja, Journalisten, die taz sei halt auch abgeschmiert. „Ein neoliberales Kampfblatt, unlesbar.“
Tabak landet auf dem Tisch, Blättchen werden befeuchtet, über der Bar steht: „2. Motto Schlager Party am 18. 2. 2017“. Und ganz generell liebt man sich, mit Pilsdeckchen vor sich und Hertha-Schals im Rücken, so, wie man ist:
„Na, meine Süße.“
„Und Horst, geht’s dir gut?“
„Hab ich dir erzählt, dass Uli morgen operiert wird?“ – „Echt jetzt, wo?“ – „Anna Hüfte.“
„Ich geb dem BER noch zwanzig Jahre.“
„Wie teuer ist ’n Grog?“ – „Woher soll ich das wissen? Bin auch nur Gastarbeiter.“
„Hertha hat echt Schwein heute.“ – „Schieß doch, schieß!“
Es ist zu spät, um aufzubrechen, also ist man hier. Idnan fallen die Tabletten aus der Jackentasche, er verabschiedet sich zweimal und kommt zweimal zurück. Daggi, der früher der Laden gehörte und die nach Amerika auswandern will, hat beim Backgammon vier zu eins gegen Ursel gewonnen. Horst trinkt, und Manne trinkt und Armin sagt: „Ist doch so, wir haben immer mehr Diktatoren. Erdoğan, Putin, Assad, Ungarn, Polen. Alles Kranke.“
Auf Sky sagt Uli Hoeneß Phrasen zu Philipp Lahms Abschied. Und am Zapfhahn sagt Marina, die auf die Uhr neben dem Fernseher starrt, als könne sie den Minutenzeiger beschleunigen: „Mensch, die Zeit vergeht heute ja wieder wie im Flug.“
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