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MAßREGELVOLLZUG Wie man durch Spekulationen, alternative Fakten und eine schludrige Justiz in die forensische Psychiatrie gerät: eine Fallgeschichte aus BremenDie Manie der Frau S.

Sehnsucht nach Normalität: gemeinsamer Aktionstag von PatientInnen, Ärzten und Pflegern 1982 in der Langzeitpsychiatrie Blankenburg, deren Auflösung zu diesem Zeitpunkt bereits beschlossen war Foto: Gotthard Raab/Krankenhaus-Museum, Bremen

von Jan Zier

Irgendwann ist Meike S. da einfach hineingeraten. Und nach dem Streit mit ihrem Ex fast ein Jahr in der forensischen Psychiatrie gelandet. Das fanden auch lange Zeit alle okay, die in Bremen darüber zu entscheiden haben, ob so jemand weggesperrt wird – die Richter ebenso wie die Staatsanwälte. Bis die Bundesanwaltschaft einschritt. Sie verpasste der Bremer Justiz „eine schallende Ohrfeige“, wie Sven Sommerfeldt, einer der Verteidiger von Frau S., das nennt. Seither ist sie wieder frei.

Die 48-Jährige, so viel steht fest, ist eine Stalkerin. Gut zehn Jahre war sie mit Noel G. zusammen, und am Ende wollte er sich von ihr, sie sich aber nicht von ihm trennen. Im Dezember 2013 traktiert sie seinen Audi A8 mit dem Hammer, gut 50 Dellen wird das Auto am Ende haben. Das Amtsgericht Bremen-Blumenthal klagt sie deshalb der Sachbeschädigung an und verurteilt Meike S. zu einer Geldstrafe von fast 1.000 Euro. Hätte sie diese Strafe akzeptiert, die Geschichte könnte hier zu Ende sein.

Sie legt Widerspruch ein, es kommt zur Verhandlung. Meike S. sei „obdachlos“, sagt sie seinerzeit dem Amtsgericht, lebt im Auto und ist von dem Prozess „überfordert“. Eine Gutachterin kommt ins Spiel: Vera K. aus Hannover. Ihre über einhundertseitige Expertise wird immer wieder dafür sorgen, dass die Angeklagte in Klinikum Bremen-Ost untergebracht wird.

Das Bundeszentralregister, in dem all diese Gewaltdelikte aufgelistet sein müssten, weist keinerlei Eintragung auf

Die Psychiaterin attestiert Frau S. eine „krankhafte seelische Störung“, genauer gesagt – und „unzweifelhaft“ – eine „Manie mit psychotischen Symp­tomen“. Eindeutig ist diese Diagnose jedoch nicht: Der frühere Chefarzt der Psychiatrie im Klinikum Bremen-Ost, Peter Kruckenberg, jedenfalls findet es „wahrscheinlich“, dass sie eher an einer Borderline-nahen Persönlichkeitsstörung leidet.

Zu dem kaputten Auto kommen 2014 noch zahlreiche telefonische Belästigungen, Beleidigungen und Bedrohungen: „Wenn ich dich auf deinem Motorrad sehe, stecke ich einen Stock in die Speichen“, soll sie ihrem Ex auf die Mailbox gesprochen haben, und dass sie sein „Haus in Brand setzen“, die Familie seiner Schwester „aufschlitzen“ werde. Wahr gemacht hat Meike S. all das bis heute nicht. Aber: Eine Brandstiftung sei „nicht auszuschließen“, schreibt die Psychiaterin in ihrem Gutachten.

Das wird gravierende Folgen haben: Im März vergangenen Jahres weist das Amtsgericht Bremen-Blumenthal Meike S. in ein psychiatrisches Krankenhaus ein. Begründung: Es sei, nach all dem, was die Gutachterin schreibe, „sehr wahrscheinlich“, dass die Angeklagte in „wahnhafter Verkennung der Beziehung“ schwere Straftaten begehe. Zumal sie, wie Amtsrichter Stegemann behauptet, strafrechtlich „bereits erheblich in Erscheinung getreten“ sei, unter anderem mit „Gewaltdelikten“.

Das stimmt zwar überhaupt nicht, wiegt aber als Vorwurf schwer. Und wird im weiteren Laufe des Verfahrens sowohl von der Staatsanwaltschaft als auch vom Landgericht und dem Oberlandesgericht ungeprüft weiter behauptet. Doch das Bundeszentralregister, in dem all diese Gewaltdelikte aufgelistet sein müssten, weist keinerlei Eintragung auf. Später wird das Landgericht diesen alternativen Fakt der Bremer Justiz als „Flüchtigkeitsfehler“ abtun.

Neues Leben: „Blankenburger“ besichtigen ihre zukünftige Wohnung in Bremen, um 1985. Der damalige Bremer Landesregierung war die erste, die die Empfehlungen der Psychiatrie-Enquetekommission umsetzte Foto: Gotthard Raab/Krankenhaus-Museum, Bremen

Um hierzulande jemand in der Forensik einsperren zu dürfen, müssen zwei Voraussetzungen erfüllt sein: Die Betroffene muss zumindest „vermindert schuldfähig“ sein. Und es müssen von ihr „erhebliche rechtswidrige Taten zu erwarten“ sein, deretwegen sie „für die Allgemeinheit gefährlich“ sind, wie es in §63 des Strafgesetzbuches heißt.

Dass auch die zweite Bedingung erfüllt ist, stellt die Gutachterin K. nicht fest. Sie schließt eben nur nicht aus, dass Meike S. zur Brandstifterin werden könnte. Auf eine Nachfrage des Landgerichts Bremen erklärt sie, eine solche Gefahr sei „nicht von der Hand zu weisen“. Dem Landgericht reicht diese Spekulation, und dem Hanseatischen Oberlandesgericht auch. Insgesamt rund zehn Monate wird Meike S. deshalb im Klinikum Bremen-Ost eingesperrt.

Jeder dieser Monate kostet den Staat dabei übrigens gut 10.000 Euro, sagt Sven Sommerfeldt. Einen Richter interessiert diese Zahl freilich nicht: „Judex non calculat“, sagen die Juristen – der Richter rechnet nicht. 2011 wurden in Bremen 856 Menschen in die Psychiatrie zwangseingewiesen. Das waren vergleichsweise mehr als fast in jedem anderen Bundesland, nur in Schleswig-Holstein und Bayern gibt es noch mehr Zwangseinweisungen. Bis zum vergangenen Jahr ist die Zahl kontinuierlich auf 1.147 gestiegen.

Im November 2016 legt Sommerfeldt schließlich Verfassungsbeschwerde ein, weil er die Freiheitsgrundrechte der Angeklagten verletzt sieht. Darüber ist zwar bis heute nicht entschieden, doch für den Generalbundesanwalt ist de Sache klar: „Ein Erfolg wird nicht zu versagen sein“, schreibt er dem Bundesverfassungsgericht.

Zugleich übt er scharfe Kritik an der Bremer Justiz: Das Landgericht verfehle die rechtlichen Anforderungen und verkenne die Maßstäbe für eine Unterbringung, heißt es da. Die Frage, ob es überhaupt je verhältnismäßig war, Meike S. in der Psychiatrie einzusperren, habe das Landgericht gar nicht und das Oberlandesgericht nicht ordentlich geprüft. Stattdessen sei man dort von „falschen Tatsachenbehauptungen“ ausgegangen“.

Die Bremer Staatsanwaltschaft beantragt daraufhin die „sofortige Freilassung“ von Meike S. Das Landgericht ficht das nicht an: Es lehnt den Antrag ab. Erst im Januar diesen Jahres hat es ein Einsehen: Eine schwere Straftat sei „nicht mehr zu erwarten“, heißt es nun, mit Verweis auf die „umsichtige“ Gutachterin Vera K.

Die lobt nun den „strukturierten und vor allem reizarmen Rahmen“ im Maßregelvollzug. Dadurch sei die Manie von Meike S. „möglicherweise abgemildert“ worden. Zu der Kritik der Bundesanwaltschaft verlieren die Richter kein Wort. Ihr neuer WG-Mitbewohner beschreibt S. als „tapfere, nette, gebildete und weltoffene Frau, mit der man sich gerne unterhält“. Ob sie wütend sei, wird er vom Landgericht gefragt. „Ja“, sagt er: „Auf die Klinik. Auf die Struktur. Auf die Verhältnisse.“

Der Strafprozess gegen Meike S. wird derweil fortgesetzt. „Eigentlich müsste er eingestellt werden“, sagt Anwalt Sommerfeldt. Wird er aber nicht. Eine Strafe hat die Angeklagte schon bekommen.

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