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Eine schwermütigere Zeitung

Vielfalt Mit der „Agos“ verschaffte Hrant Dink den Armeniern in der Türkei eine Stimme. Vor zehn Jahren wurde er ermordet

aus Istanbul UYGAR GÜLTEKİN

Hrant Dink sagte einst über die Wochenzeitung Agos: „Wir wollen den Armeniern einen Zugang zur Mehrheitsgesellschaft eröffnen: ein Fenster, eine Tür sein.“ Die Hälfte ihres zwanzigjährigen Daseins verbrachte Agos nun ohne ihren Begründer Hrant Dink, der das Herz und Hirn der Zeitung war. Und versucht – genau wie Hrant Dink es vorausgesagt hat – immer noch Tür und Fenster zu sein für die armenische Minderheit in der Türkei. Mit einer Auflage von 5.000 Exemplaren verkauft sich die Wochenzeitung vor allem über Abonnements, weil sie außerhalb von Istanbul nur an wenigen Kiosken liegt. Im Vergleich zu den Anfangstagen im Jahr 1996 aber sind unsere Fenster mittlerweile zahlreicher und größer geworden.

Armenier leben schon seit Jahrhunderten in diesem Land. Aktuell sind es je nach Quelle zwischen 70.000 und 4 Millionen. Sie flanierten auf den gleichen Straßen, kochten und genossen ihr Essen in den gleichen Lokalen, und sie erfuhren viel Leid. Selbst nach dem Genozid in den Jahren 1915–16 war das Leben in der Türkei nicht einfach für die Überlebenden, die nicht auswanderten. In fast jeder Regierungszeit wurde die armenische Minderheit zum Ziel politischer Hetzkampagnen. Ihr Lebensraum wurde begrenzt, ihre Wirkmacht innerhalb der Gesellschaft bei jeder Gelegenheit gebrochen. Agos hat diese unter uns lebenden Armenier in die öffentliche Wahrnehmung gerückt, indem sie über ihren Alltag, ihre Probleme, ihre Geschichte berichtete.

Der größte Erfolg ihres Gründers Hrant Dink war es wohl, in Worte zu fassen, was den Armeniern in der Türkei an Schrecklichem widerfahren ist. Er wagte es, den Genozid zu thematisieren, immer und immer wieder. Wir, das kleine Team der Agos-Redaktion, versuchen, in diese Fußstapfen zu treten – sorgfältig, mit Bedacht und immer in der Gewissheit, dass diese Aufgabe stets eine Nummer zu groß für uns sein wird.

Paradoxerweise hat Hrant Dinks Ermordung zu größerer Aufmerksamkeit für Agos und die armenische Sache geführt. Die armenische Minderheit gelangte ins Zentrum der Öffentlichkeit. Eine neue Ära begann, als plötzlich auf allen TV-Bildschirmen des Landes von einer armenischen Zeitung und ihrem ermordeten Gründer berichtet wurde. In diesen Zeiten, kurz nachdem Dink starb, konnte Agosoffener berichten. Aber als sich das politische Klima in der Türkei veränderte, taten die politischen Wortführer erneut das, was sie am besten konnten: verleugnen. Alle bisherigen Äußerungen und Eingeständnisse über die Geschehnisse von 1915 bis 1916 wurden für nichtig erklärt und alles begann wieder bei null. Damit die Stimmen der Zeitzeugen, die sich damals Gehör verschafft haben, nicht verstummen, druckt Agosdie bereits erzählten Geschichten ebenso wie diejenigen, die noch erzählt werden müssen.

Ein anderes Anliegen von Agos ist der Dialog unter den Armeniern. Sie leben inzwischen weit über das Land verstreut, in sehr unterschiedlichen Lebenswelten. Auf der einen Seite jene, die in Anatolien leben und kein Armenisch können. Auf der anderen Seite „Istanbuler Armenier“, die meist armenische Schulen besucht haben und Armenisch lesen und schreiben können. Außer ihren Vorfahren einte die beiden Seiten lange nicht viel. Heute ist es einfacher geworden, auch über die muslimischen Armenier zu berichten. Nicht nur die armenische Community geht mittlerweile offener mit diesem Thema um als früher. Die türkische Mehrheitsgesellschaft tut es ebenfalls.

Agos wurde von einer kleinen Gruppe um Hrant Dink gegründet. Aber den Charakter der Zeitung prägte größtenteils er selbst. Er machte das Blatt zu einer immer lauter vernehmbaren Stimme der armenischen Bevölkerung, zu einem Forum für intellektuellen wie gesellschaftlichen Austausch, indem er nicht davor zurückschreckte, Tabus zu brechen. Und genau an dem Punkt, als die Stimmen sich zu einem Aufschrei summierten, wurde Hrant Dink auf offener Straße, vor dem damaligen Verlagsgebäude von Agos, von einem jungen Nationalisten erschossen. Das war heute vor zehn Jahren.

Der Gerichtsprozess, der die Hintergründe des Attentats auf Hrant Dink klären soll, ist immer noch nicht abgeschlossen. Dennoch passierte etwas, was diejenigen, die hinter dem Attentat steckten, wohl nicht erwarteten: Die Armenier begannen zu sprechen, über ihre Identität, über ihre Vorfahren, über ihr Leid. In unsere Zeitung gelangten Erzählungen über den Genozid, die die Armenier jahrelang verschwiegen hatten, ebenso wie Geschichten der griechischen, assyrischen, jüdischen und kurdischen Minderheiten, von Frauen, von Homosexuellen, von Nachbarschaften und Kirchengemeinden.

Es geschah etwas,was die Mörder nicht erwartet hatten: Die Armenier begannen zu sprechen

In den Jahren nach dem Mord an Hrant Dink ist die Türkei in eine beschleunigte Phase geraten, das politische Klima hat sich sehr schnell verändert. Agos hat neue Probleme und ist überdies zu einer Feuerwehr für die Sorgen anderer Minderheiten geworden. In diesen Tagen, in denen sich der politische Ton zunehmend verschärft, sind ethische Grundsätze nicht verhandelbar für unsere Zeitung. Die pazifistische Perspektive, aus der Agos gegründet wurde, ermöglicht es uns, auch inmitten dieser aktuellen Kämpfe gegen die staatlichen Repressionen aufrecht zu bleiben.

Agos nach Dink heißt eben auch, dass wir mit einer schwereren Last unterwegs sind als zuvor. Weil wir das Hirn und Herz der Zeitung längst verloren haben. Wir versuchen, vielstimmig zu bleiben, mit mehr Sorgenfalten als bisher.

Übersetzt von der Redaktion

Lesen Sie den Text im türkischen Original auf gazete.taz.de

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