: Full English Brexit
GrossbritannienDie britische Premierministerin Theresa May legt in einer Grundsatzrede vor, was sie inden Brexit-Verhandlungen mit der Europäischen Union anstrebt – und liest der EUdie Leviten
von Dominic Johnson
Am 18. April 1988 stand Margaret Thatcher im imposanten Lancaster House in London und sprach über den europäischen Binnenmarkt. Sie rief die britische Wirtschaft dazu auf, ihn als Chance zu sehen. Die Briten seien mit ihrem Unternehmergeist den Europäern voraus, tönte die Premierministerin: „Es bestand in Europa die Neigung, hochtrabend über die Europäische Union zu reden. Das mag gut für die Seele sein. Aber der Körper – Europas Firmen und Organisationen und die Menschen, die darin arbeiten – brauchen etwas Nahrhaftes.“
Am 17. Januar 2017 steht wieder eine britische Premierministerin im Lancaster House und spricht wieder über den Binnenmarkt. Wo Thatcher blumig sprach, bevorzugt Theresa May trockene Prosa. „Als Priorität werden wir ein mutiges und ambitioniertes Freihandelsabkommen mit der Europäischen Union verfolgen“, sagt May. „Was ich vorschlage, kann keine Mitgliedschaft im Binnenmarkt bedeuten. Europäische Führer haben oft gesagt, dass Mitgliedschaft bedeutet, die ‚vier Freiheiten‘ von Waren, Kapital, Dienstleistungen und Menschen zu akzeptieren. Und nicht in der EU zu sein, aber Mitglied des Binnenmarktes, würde heißen, den Regeln der EU über diese Freiheiten zu folgen, ohne über diese Regeln mitreden zu können. Es würde heißen, dem Europäischen Gerichtshof eine Rolle zu gewähren, die ihm weiterhin direkte juristische Macht in unserem Land zugesteht. Es würde praktisch bedeuten, die EU gar nicht zu verlassen.“
Mays Grundsatzrede zum Brexit ist in sich so logisch, dass man sich fragt, wieso sie damit eigentlich sechs Monate und vier Tage seit ihrem Amtsantritt gewartet hat. Alle Unklarheiten, über die sich Kommentatoren seit Monaten die Haare rauften, scheinen plötzlich wie weggeblasen.
Nach dem Brexit im Binnenmarkt bleiben? Natürlich nicht. In der Zollunion? Auch nicht. Aber ein Zollabkommen. Und vor allem ein Freihandelsabkommen, das den „größtmöglichen Zugang zum Binnenmarkt auf der Grundlage vollständiger Gegenseitigkeit“ regelt. Dazu: Gewährleistung der Rechte von Migranten, ebenfalls auf Gegenseitigkeit. Zusammenarbeit mit der EU in den Bereichen Außenpolitik, Verteidigung, Sicherheit, Terrorbekämpfung, Strafverfolgung. Und, ganz wichtig: ein vollständiger Austritt, aber kein abrupter Bruch.
„Idealerweise möchte ich, dass wir eine Einigung über unsere zukünftige Partnerschaft erzielt haben, wenn die Zweijahresfrist des Artikels 50 abgelaufen ist“, sagt May. Danach könnte eine zeitlich gestaffelte Umsetzung beginnen, an einzelne Themen angepasst: Zuwanderung, Zölle, Justiz, Finanzregulierung.
May reicht der EU also die Hand. Aber bisher ist die Brüsseler Linie: Die Austrittsgespräche drehen sich nur um die Modalitäten des Austritts. Was danach kommt, wird danach verhandelt. Das heißt eine Übergangszeit nach dem Brexit. Die Brexit-Gegner wollen dadurch so viel EU-Einfluss in London erhalten wie möglich.
Theresa May
Dem erteilt May eine deutliche Absage. Sie will keinen „unbegrenzten Übergangsstatus, in dem wir uns für immer in einer Art politischem Dauer-Fegefeuer wiederfinden“. Sie will „keine Teilmitgliedschaft der EU, keine Assoziierung mit der EU, nichts, was uns halb drin, halb draußen lässt“ – das richtet sich auch an Schottlands Premierministerin Nicola Sturgeon, die im Binnenmarkt bleiben will und nach Mays Rede den Austritt aus dem Binnenmarkt zur „Katastrophe“ erklärt.
Unannehmbar, droht May, wäre ein „Deal, der Großbritannien für den Brexit gezielt bestraft“. Dann müsste London im Gegenzug als Konkurrent Europas auf den Weltmärkten auftreten. Und die EU wolle ja wohl nicht „deutsche Exporteure, französische Bauern, spanische Fischer und die Arbeitslosen der Eurozone bewusst ärmer machen“.
Solche Worte provozieren. In Deutschland sagt SPD-Fraktionschef Thomas Oppermann: „Wer einen harten Bruch will, soll ihn bekommen.“ Aber May will ja gar keinen harten Bruch, sondern warnt vor den Folgen. Sie will eine Einigung.
Zu Beginn ihrer Rede entwirft Theresa May vor den versammelten Diplomaten das Bild eines „Global Britain“, weltoffener und zuversichtlicher als die EU. Europas Stärke sei seine Vielfalt, doziert sie. Man könne mit Vielfalt umgehen, indem man „die Dinge mit Zwang zusammenhält und einen Klammergriff ausübt, der die Dinge, die man schützen will, zermalmt – oder man kann Unterschiede respektieren, sogar schätzen, und die EU reformieren“.
Hier spricht die Wahlkämpferin aus dem Brexit-Referendum, als das Pro-EU-Lager mit dem Versprechen warb, die EU von innen zu verändern. Damit war Mays Vorgänger David Cameron allerdings bereits gescheitert. May hat daraus gelernt. Nicht der britische EU-Verbleib, sondern der Brexit soll nun die EU zu Reformen bewegen.
23. Januar: Das britische Oberste Gericht urteilt, ob das Parlament den EU-Austrittsantrag genehmigen muss.
Ende März 2017: Die britische Regierung stellt bei der EU den Austrittsantrag. Beginn der Brexit-Verhandlungen.
Mai 2017: Frankreich wählt.
September 2017: Deutschland wählt einen neuen Bundestag.
Ende März 2019: Die auf zwei Jahre angesetzten Brexit-Verhandlungen enden, außer beide Seiten beschließen eine Verlängerung.
Mai 2020: Großbritannien wählt.
Die Briten „stimmten dafür, die EU zu verlassen und die Welt zu umarmen“, erläutert die Premierministerin: „Wir möchten hinaus in die Welt.“ Sie wiederholt ihr Bekenntnis zu sozialer Gerechtigkeit, zu mehr Arbeitnehmerrechten, zur Multikulturalität. Sie will Schottland, Wales und Nordirland einbeziehen. Die Grenze zur Republik Irland, die nach dem Brexit eine EU-Außengrenze sein wird, soll für die lokale Bevölkerung offen bleiben.
Für europäische Ohren, die Brexit mit nationalistischem Rückzug gleichsetzen, mag Mays optimistische Rhetorik verwirrend sein – den Briten ist sie vertraut. So führte der heutige Außenminister Boris Johnson seinen Brexit-Wahlkampf, und so trat Theresa May auf ihrem Parteitag im Oktober auf.
Damals blieb das Ziel des Brexit noch offen. Jetzt hat May das Ziel formuliert. Aber der Weg dahin, warnte am Wochenende der Brexit-Ausschuss des britischen Parlaments, liegt nicht in Mays Macht. Er ist Verhandlungssache. Und May will nicht alles schlucken, was Brüssel ihr bietet. „Gar kein Deal ist besser als ein schlechter Deal.“ Margaret Thatcher wäre zufrieden.
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