Die Wahrheit: Im Feuerwerk ein Papagei
Die Wahrheit-Silvestergeschichte: Eine sehr seltsame Begegnung am letzten Tag des Jahres mit einem Ara und einem alten Drehorgelspieler.
Etwas trat Wiktor ins Kreuz, und davon wachte er auf. Er hockte in der U-Bahn, die nachbebte von einer Vollbremsung. Die Notbeleuchtung glomm mit ein, zwei Funzeln. Wiktor konnte nicht sehen, ob andere Passagiere im Waggon saßen, Stimmen hörte er auch nicht. Er wollte den Kopf drehen, doch ein Schmerz jagte wie ein langer Nagel vom Nacken hoch zu den Augen. Wiktor blieb die Luft weg, denn jetzt brannte ihm auch noch die linke Wange. Er schmeckte altes Blut und würgte.
Plötzlich war ein Geklimper zu hören wie von vielen Kupfermünzen. Wiktor sah einen helleren Schatten aus dem Dämmer vor ihm erscheinen und ein rotes Schimmern. Wiktor wischte sich die Augen, in denen Tränen schwammen. Zwei Schritt vor ihm stand ein uraltes Männlein mit Prinz-Heinrich-Mütze auf dem prächtig weiß gelockten Kopf, einer zerschlissenen Kapitänsjacke und einer Drehorgel.
Sie hing dem Greis an gelben Ledergurten vor Brust und Bauch, und Wiktor begriff nicht, wie das Männchen mit diesem Trumm noch aufrecht stehen konnte. Auch das Gewicht des großen Vogels auf der linken Schulter schien ihm nichts auszumachen.
Das Geplärr des Papageis
Es war ein Papagei, ein Arakanga. Wiktor hatte als Schüler in einem Zooladen gejobbt, seitdem kannte er sich mit Tieren gut aus. Der Ara starrte ihn aus hellen Augen an, als wüsste er alles über Wiktor, legte den Kopf schräg, als dächte er nach, und krähte jäh: „Mucki? Schöne Mucki! Liebe Mucki, ahoi! Mucki süß, hehehe!“ Wiktor presste die Hände auf die Ohren, so weh tat seinem Schädel das Geplärr. Und nun fiel ihm wieder ein, was vorhin passiert war.
Er war mit Päddi in die City gefahren, einen alten Metallkoffer im Schlepp, randvoll mit Böllern und Kassettenraketen. An der Auferstehungskirche trafen sie Hörni, den Biker, Cem, den Kiffer, und Corinna, Hörnis Tussi. Nach einem Begrüßungsschluck Wodka mit O-Saft fingen sie an zu streiten, wer wohl in dieser Silvesternacht das krasseste Feuerwerk zu bieten hatte. Bald triezten sie sich gegenseitig mit Krachern und Bengalos und machten nur Pausen, um was zu trinken. Anfangs achteten sie noch darauf, die Böller nicht zu nah vor die Kontrahenten zu werfen, aber irgendwie wurde die Straße immer schmaler und das Licht immer fahler. Schließlich kickte Wiktor einen fetten Polenböller dem Biker genau vor die Stiefel, und da explodierte das Höllending mit einem Knall, der alle Fenster zum Klirren brachte.
Corinna fing vor Schreck an zu heulen, Hörni entdeckte Brandnarben auf seiner teuren Lederhose, und ehe Wiktor was sagen konnte, hatte er schon die beträchtliche Faust des Bikers im Gesicht. Dann brüllten Hörni und Corinna im Wechsel, Wiktor solle sich vom Acker machen, ob es wohl hacke bei ihm und so weiter. Päddi sagte vorsichtshalber nichts. Cem nickte eifrig. Wiktor erkannte, dass es besser war zu gehen, deutete eine obszöne Geste an und lief zur U-Bahn-Station. Erst als der Zug abfuhr, merkte Wiktor, dass seine restlichen Böller noch im Koffer steckten. Hörni hatte sich wahrscheinlich schon die besten Teile gegriffen. In blindem Zorn dachte Wiktor, wie geil es wäre, sich zwischen seine feinen Kumpel zu stellen und in die Luft zu fliegen wie einer dieser Irren in der Wüste. Danach: Filmriss …
Der Lärm des Pfeifenwerks
Grell legte der Arakanga wieder los: „Mucki! Mucki lieb, ahoi, Mucki schön, schüss!“ Wiktor vermied es, in die wissenden Äuglein des Vogels zu sehen. Er sprach lieber das Männlein an: „Kann Mucki mal den Schnabel halten?“ Wie zur Antwort legte der Greis die runzlige Rechte auf den Griff und drehte die Kurbel. Der Lärm des Pfeifenwerks fühlte sich an, als würde der Orgelmann in Wiktors Gehirn rühren. Der Ara tanzte und tönte: „Mucki, ahoi! Mucki süß, Mucki schüss!“ Wiktor, der aus einem Nest bei Düsseldorf stammte, erkannte das Stück: „Das letzte Hemd hat keine Taschen“, murmelte er. „Auch das noch.“ Mitten im Takt brach das Orgeln ab. Eine warme Stimme erklang, und jedes Wort, das sie sagte, fühlte sich an wie mit Samt überzogen: „Der Alte ist ein Schelm, was soll man machen. Doch er wird jetzt Ruhe geben.“
Wiktor glotzte das Männlein an. Es hatte geredet, ohne den Mund zu bewegen. Die schöne Stimme kam aus dem Schnabel des Aras. „Toller Trick“, sagte Wiktor, aber der Papagei schüttelte den feuerroten und schneeweißen Kopf so heftig, dass Federn flogen. „Nein, dies ist echt. Der Alte kann nicht sprechen. Für die Konversation bin ich zuständig.“ Wiktor wäre gern fortgerannt, aber im Dunkel des Waggons schienen seltsame Wesen zu lauern, seltsamer als Ara und Drehorgelmann. „Wer seid ihr Typen?“, fragte Wiktor. „Seid ihr vom Fernsehen?“ Der Vogel senkte den Clownskopf. „Das wüsste ich aber“, sagte er. „Nein. Wir sind der Geist des vergangenen Jahrs“ – dabei zupfte der Papagei an der verblichenen Kapitänsjacke – „und der des neuen.“ Er verneigte sich artig und schrie: „Mucki süß, Mucki schüss, hehehe!“ Wiktor wollte am liebsten in Ohnmacht fallen.
„Heda“, sagte der Ara, nun wieder mit sanfter Stimme, „nicht schlappmachen! Wir brauchen dich … Wiktor!“ Woher kannte das Vieh seinen Namen? Das war doch unmöglich. „Wenn es dir damit besser geht, halt mich für einen Traum. Ich bin tatsächlich nicht real. Noch nicht. Das werd ich erst mit deiner Hilfe.“ Wiktor fiel nichts Klügeres ein als zu fragen: „Warum ich?“ Der Ara erwiderte: „Es gibt keinen besonderen Grund, warum wir dich ausgewählt haben. Jeder andere Mensch wäre genauso recht gewesen. Aber du … ganz allein, stinksauer, sturzbetrunken und verprügelt – leichtes Spiel. Das verstehst du bestimmt.“ – „Ich versteh gar nichts“, sagte Wiktor.
Der Mist des alten Jahres
„Egal.“ Der Ara beugte sich vertraulich vor. „Sieh mal, es ist so. Wenn ein Jahr vergeht, hat sich reichlich Mist angesammelt. Der muss weg, bevor es ein neues Jahr geben kann. Und zu diesem Zweck benötigen wir ein Gefäß.“ – „Einen Mülleimer, meinst du.“ – „Ich möchte solch garstige Worte vermeiden, Wiktor. Ein Gefäß, ja? Da kommt alles rein, was den Alten verrückt gemacht hat, und danach entschwindet er für immer, und ich lege frisch los, von seinem Ballast befreit. So geht das seit Ewigkeiten.“ Wiktor sagte tonlos: „Was ein Bullshit.“ Der Ara tat, als hätte er nichts gehört. „Du wirst also alles Schlechte des alten Jahres mit dir nehmen. Das tut gehörig weh. Also … schon ein ganzes Stück mehr als dein Kopf schmerzt. So etwa eine Milliarde Mal mehr.“
Wiktor raunte: „Das ist alles nicht wahr, das ist doch ein Albtraum!“ – „Schüss!“ rief der Ara, „Mucki süß, du Traum, ahoi!“ Und das neue Jahr schüttelte den Dreck des alten Jahres mitsamt Drehorgel in Wiktor hinein, so wie er vor einigen Stunden sein Feuerwerk in den Koffer gestopft hatte. Und als er sich im nächsten Moment zwischen Hörni, Cem, Päddi und Corinna wiederfand, erkannte Wiktor in einem Blitz, wie ihn die Stadt noch nicht erlebt hatte, dass man gewisse Dinge auch im Zorn nie wünschen sollte. Und dann raste er wie eine Rakete in den Nachthimmel, zersprang, und mit abertausend Sternfunken machte Wiktor fürs neue Jahr alles klar.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!