Berliner Inklusionstheater Thikwa: Von Glückssuche und Einsamkeit
Vordenker des Inklusionstheaters: Das Berliner Theater Thikwa und seine Performer feiern 25-jähriges Jubiläum. Ihre Emanzipation geht weiter.
Die Underdogs der Theaterszene haben sich durchgeboxt, und zwar bis nach oben. Als die Niedlichen, Harmlosen, schrullig Verquerten galten sie lange. Die, denen man auf der Bühne einen Mitleidsbonus gewährte. Wenn man sie überhaupt wahrnahm. Bis im Herbst 2012 drei Performer des Theater Thikwa erstmals in der Völkerschau-Persiflage „Dschingis Khan“ auftraten und den regulären Theaterbetrieb mit einem Schlag dazu brachten, nicht mehr wegzuschauen.
Die Schauspieler mit Down-Syndrom spielten an dem Abend in Zottelpelzen als Mongolen wie in einer Menschenausstellung. Ließen sich vorführen unter ständigen Kommandos, wie sie sich zu bewegen haben, machten Schießübungen und andere Verrichtungen im kolonialen Bilderstil des 19. Jahrhunderts. Dann aber, im zweiten Teil drehten sie den Spieß gehörig um, nahmen das Geschehen selbst in die Hand. Ihr anarchischer Selbstbehauptungs-Furor war unübersehbar, die provokante Botschaft kam an.
In der breiten Theateröffentlichkeit entfachte sich eine monatelange, zeitweise hitzige Debatte über die Repräsentanz behinderter Künstler auf der Bühne. Gerade, weil „Dschingis Khan“, eine Koproduktion mit dem Gießener Kollektiv Monster Truck, auch etliche Fragen offen ließ: was eingeübt war und wo die Performer improvisieren, was ihre Idee war oder ihnen als Konzept womöglich aufgedrückt wurde.
Die Diskussion löste ein, was man sich bereits Anfang der Neunzigerjahre erhoffte, als Thikwa in Berlin gegründet wurde: über Theater mit Behinderten in ästhetischen Kategorien zu denken. Die Inszenierungen als Kunst zu betrachten, nicht als therapeutische Beschäftigung, etwas, das sich lange in den Zuschauerköpfen gehalten hat.
Das Werkstattprinzip im künstlerischen Bereich
Das Theater Thikwa gilt heute als eine der wichtigsten und relevantesten Gruppe, die den Diskurs bestimmt. Seit 2012 leitet die Regisseurin Nicole Hummel zusammen mit Gerd Hartmann das Ensemble. Auf ihre Initiative öffnete man sich für neue, postdramatische Spielformen. „Innovativ sein“, nennt Hummel als Ziel des Generationenwechsels und des neuen Experimentierens, für das sie sich einsetzt.
Von der performativen Öffnung profitiert das Theater – aber auch von der hartnäckigen Aufbauarbeit, die die Theatergründer leisteten. In den Anfängen wurde abends nach Feierabend geprobt. An feste Schauspielerstellen war noch nicht zu denken. Nach und nach wurden bezahlte Schauspiel- und Künstlerstellen geschaffen, Ateliers und Probebühne für insgesamt 43 Mitarbeiter. Es gelang das Werkstattprinzip, in dem man Behinderte bis dato vor allem in Handwerksberufen förderte, auf den künstlerischen Bereich auszuweiten. Eine Institutionalisierung von kaum zu unterschätzender Bedeutung.
Was ist normal, was ist anders und wie verhält man sich dazu, das sind immer wieder Grundfragen inklusiver Theatergruppen, ob bei RambaZamba und ihren mit Bezugsschnipseln aufgeladenen Klassikerbearbeitungen, oder dem ebenfalls experimentell arbeitenden Schweizer Theater Hora, die mit „Disabled Theater“ 2013 als erste Gruppe zum Berliner Theatertreffen eingeladen wurden.
Seit 2006 gibt es das Theater in Berlin-Kreuzberg
Literarische Stücke und Stoffe sucht sich Thikwa, oft um autobiografische Notizen und Themen ergänzt: die eigene Identität, diskriminierende Erfahrungen, Glückssuche, Sexualität. Das kontinuierliche Schauspiel-, Stimm-, Bewegungs- und Texttraining hat die Schauspieler professionalisiert, auch wenn bestimmte Defizite dazugehören. Von Textaussetzern oder Bewegungsunsicherheiten sollte man sich als Zuschauer nicht täuschen lassen. Die Thikwa-Schauspieler sind Vollprofis, die über jahrzehntelange Erfahrung verfügen und teilweise von Anbeginn zum Ensemble gehören.
Dieser Status schützt nicht vor Kritik. Als „Dschingis Khan“ herauskam und Behindertentheater plötzlich ins Zentrum der Aufmerksamkeit rückte, lautete ein Vorwurf, dass die Schauspieler auf der Bühne bloßgestellt und manipuliert werden, dass sie nicht wissen, was sie tun. „Das ist natürlich nicht der Fall“, sagt Nicole Hummel, die in Publikumsgesprächen und auf Symposien immer wieder dagegen argumentieren muss. Sich mit den Sehgewohnheiten und Vorbehalten der Zuschauer auseinanderzusetzen, Wege zu entwickeln, sie zu durchbrechen, sei eben fester Bestandteil.
Seit 2006 hat Thikwa eine eigene Spielstätte in Berlin-Kreuzberg und funktioniert als eigenständiges Theater mit Premieren, Wiederaufnahmen, Gastspielen, Kooperationen mit der freien Szene und Theatern in Russland und Japan. Derzeit laufen 20 Inszenierungen im Repertoire, darunter auch große Ensemblearbeiten. Das kollektive Spiel bietet Schutzraum und Lernmöglichkeit für jüngere oder weniger präsente Spieler. Ein Prinzip, das nicht behindertenspezifisch ist, aber hier besondere Bedeutung hat: Austausch untereinander, Teilhabe und Wechselspiel, in dem ein jeder als Individuum sichtbar werden kann.
Langsam wirken die Arbeiten selbstverständlicher
Denn ja, über starke Persönlichkeiten verfügen die Thikwa-Schauspieler. Anlässlich des 25. Jubiläums präsentiert das Theater eine Miniwerkschau mit vier Porträtperformances. Quasi solistische Arbeiten etwa von Peter Pankow, langjähriges Mitglied, der für seine bildnerische Arbeit mehrfach mit Preisen ausgezeichnet wurde. In „Protokoll Pankow“ zeichnet er über weite Strecken an einem Wandgemälde, während Regisseur Dominik Bender Pankows sprachgewaltige Monologe spricht, in dem sich Alltagserlebnisse mit Einsamkeit, unterdrückter Sexualität und psychischer Erschütterung mischen. Wie sich das auf der Bühne mit Pankows wacher, ironischer Präsenz bricht, entwickelt einen ganz eigenen Sog. Auch der Abend „Subway to heaven“ läuft wieder, den Torsten Holzapfel mit dem Performer Martin Clausen entwickelt hat. Holzapfels schwierige Kindheit mit viel häuslicher Gewalt ist genauso Thema wie seine Liebe zum U-Bahnfahren. In bester Performancemanier verschmelzen hier Privatperson und Schauspielerrolle. Ein ganz anderer Zugang als bei Pankow, bei dem man eben doch ständig denkt, das sein Anderssein ihn zum Original macht.
Sah man vor Kurzem noch vermehrt Inszenierungen mit Behinderten, die das Anschauen und Angeschautwerden zum Thema machen, das Machtverhältnis zwischen Bühne, Zuschauer, Regieführen, wirken diese Arbeiten schon wieder viel selbstverständlicher darin, existenziell grundierte Geschichten zu erzählen.
„Macht, egal was herauskommt, kann nicht der Weg sein“
Denkt man den Autonomiegewinn konsequent weiter, den die Szene gerade erlebt, müssten die Thikwa-Künstler bald auch selbst Regie führen. Eine zweischneidige Sache für Leiterin Hummel. Die meisten Ergebnisse solcher Arbeiten, die bereits etwa bei Hora ausprobiert werden, hält sie für unfertig und nicht zu Ende gedacht. In „Regie“ experimentierte man selbst damit. Die drei Thikwa-Darsteller, Sabrina Braemer, Jonny Chambilla, Oliver Rincke, gaben ihren Einstand als Regisseure der eigenen Arbeit. Das Ergebnis war eine Parodie auf die Machtstrukturen der Theater- und Filmapparatur, fürs Gelingen brauchte es allerdings viel Regiehilfe von außen.
„Die Bühne zu überlassen und zu sagen, macht, egal was heraus kommt, kann nicht der Weg sein“, fügt Hummel bei. Das gilt natürlich genauso für alle anderen, „normalen“ Künstler – solche Einwände könnte man an vielen Punkten machen, bringt aber wenig. Die Behindertentheaterszene sammelt gerade Erfahrungen, die sie unter ihren eigenen Vorzeichen auswerten muss. Mit Kontinuität, Einsatz und vielen Diskussionen sind sie bereits beeindruckend weit gekommen.
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