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Arbeitsagentur behindert Aufklärung„Das geht überhaupt nicht!“

Nelson Janßen, Vorsitzender des Untersuchungsausschusses zum Sozialbetrug in Bremerhaven, erhebt schwere Vorwürfe

Gegenstand des Streits zwischen Ausschuss und Bundesarbeitsagentur: Akten, Akten, Akten Foto: dpa
Gareth Joswig
Interview von Gareth Joswig

taz: Herr Janßen, der SPD-Abgeordnete Patrick Öztürk und sein Vater sollen gewerbsmäßigen Sozialbetrug in Bremerhaven mit über 1.000 Menschen aus dem südosteuropäischen Raum begangen haben. Die Bundesagentur für Arbeit hat Jobcenter-Akten nun als „Verschlusssache“ eingestuft. Ist das ein Indiz dafür, dass sie in den Fall verstrickt ist?

Nelson Janßen: Es hinterlässt einen schalen Beigeschmack. Die Behörden, die im Mittelpunkt der Untersuchung stehen, behindern die Aufklärung. Das ist sowohl ein demokratischer Affront als auch die Behinderung von Ermittlungen und politischer Aufklärung. Im Zweifelsfall müssen wir es rechtlich durchfechten. Und ich bin sicher: Wir würden auch gewinnen. Aber es würde so viel Zeit kosten und behindert schon jetzt die Aufklärung. Das geht überhaupt nicht!

Gerade haben Sie sich mit Obleuten des Ausschusses getroffen. Was werden Sie tun?

Wir bitten den Bürgerschaftspräsidenten Christian Weber, ein Schreiben an das Bundesarbeitsministerium aufzusetzen, um gegen die Einstufung vorzugehen. Es kann nicht sein, dass Bundesbehörden unsere Arbeit derart erschweren. Die formale Einstufung als Verschlusssache ist aus unserer Sicht rechtswidrig. Das hat eine grundsätzliche Dimension und ist ein Affront gegen den Untersuchungsausschuss.

Warum ist es wichtig, dass die Akten nicht Verschlusssache sind?

Wenn Akten als Verschlusssache bezeichnet sind, bedeutet das: Die Unterlagen dürfen sich nur in bestimmten abhörsicheren Räumen befinden. Es dürfen keine Notizen gemacht werden, die man aus dem Raum mitnehmen darf. Nur sicherheitsüberprüfte Mitarbeiter dürfen mit den Akten arbeiten. Wir dürfen nicht elektronisch über den Inhalt der Akten kommunizieren – nicht mal unter Verschwiegenheitsauflagen. Kurz: Der Umgang mit diesen Akten würde die Arbeit des Ausschusses erheblich behindern.

Im Interview: 

26, sitzt dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss zum Sozialbetrugsverdacht vor und für die Linke in der Bürgerschaft.

Könnten die Akten denn tatsächlich so brisant sein?

Ich schätze nicht, dass die Dokumente so brisant sind und die rechtliche Grundlage für die Einstufung vorliegt. Sollte sie Bestand haben, bezweifle ich, dass in den Jobcentern Bremerhaven die Sicherheitsstandards im Umgang mit solchen Akten gewährleistet sind. Das würde dieselben Sicherheitsauflagen für Menschen im Jobcenter Bremerhaven bedeuten. Die Akten müssten in abhörsicheren Räumen sein, dort darf niemand darüber Notizen machen oder darüber sprechen. Wenn sich die Einstufung als gerechtfertigt erweist, bin ich gespannt auf die Nachrüstungen in den Jobcentern bundesweit. Es gibt kein einziges, dass diesen Sicherheitsansprüchen der Bundesagentur für Arbeit erfüllt.

Worum geht es in diesen Akten?

Es sind Leistungsakten beteiligter Empfänger. Die Jobcenter behaupten, die Unterlagen füllen eine ganze Wagenladung. Tatsächlich wollen wir jedoch nur genug Akten, um die Betrugsmechanismen zu verstehen – den Modus Operandi der beteiligten Vereine und der betroffenen Behörden. Wir müssen einschätzen können, ob die Ämter gewissenhaft oder fahrlässig gehandelt haben.

Der Ausschuss beginnt im Januar. Sie haben schon mit dem Aktenstudium angefangen: Was sind erste Erkenntnisse?

Wir haben verschiedene Beweiskomplexe und konkrete Fragen: Welche Rolle haben die Vereine gespielt? Gab es reale Arbeitsverhältnisse? Haben die Behörden versagt? Warum gab es keine politische Kontrollebene? Wo hat das System versagt oder war lückenhaft? Zu welchen Bedingungen waren die Menschen eigentlich untergebracht? Der Untersuchungszeitraum reicht bis ins Jahr 2013 zurück. Das Datum fällt mit der Arbeitnehmerfreizügigkeit in der EU zusammen. Vermutlich sind die betroffenen Menschen in Notlage in ein ausbeuterisches System gelangt.

Was ist mit den BulgarInnen, die noch in Bremerhaven sind?

Der Ausschuss befasst sich auch mit der humanitären Situation der Betroffenen. Die Linke hat vor dem Sommer bereits einen Antrag gestellt, um die Verelendung ausgebeuteter Migranten zu verhindern. Auch SPD und Grüne haben den unterschrieben und er wurde angenommen. Aber es stellt sich die Frage, ob er auch umgesetzt wurde. Das sind auch Fragen, die der Senat beantworten muss. Für Patrick Öztürk gilt natürlich die juristische Unschuldsvermutung. Bei den betroffenen BulgarInnen ist es anders: Für sie sind die Sozialleistungen bereits jetzt rechtskräftig entzogen. Damit wird ganzen Familien die Lebensgrundlage entzogen.

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1 Kommentar

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  • Ganz sicher werden die Akten irgendwann nicht mehr Verschlußsache sein. Doch dann wird die Angelegenheit möglicherweise wieder zur reinen Glaubenssache: Alle müssen ganz fest glauben, daß bis dahin nicht 90 Prozent der Akten "versehentlich" geschreddert werden.