: Die Schwachen werden nicht genug beachtet
Kommentar
von Karl-Heinz Ludewig
Rot-Rot-Grün muss aufpassen, dass die Fußgänger nicht unter die Räder kommen
Den Blick gesenkt, so rolle ich vorwärts – immer auf Löcher, Kanten, Unebenheiten oder Steine auf dem Gehweg achtend. Langsam, um nicht mit den kleinen Rädern des Rollstuhls irgendwo hängen zu bleiben und einen Sturz zu riskieren. Augenhöhe ist im Straßenverkehr nicht gegeben, ein im wörtlichen Sinne Übersehen kommt oft vor.
Ich habe Glück gehabt, dass die Gehwege und Straßen meiner direkten Umgebung einigermaßen erträglich sind und ich nach Eintritt der Querschnittslähmung in meinem Kiez bleiben konnte. Aber es gibt Stadtteile mit Bordsteinen so hoch wie Unterarme oder schräg geneigten Bürgersteigen, wie zum Beispiel in Nord-Neukölln. Solche Stellen sind für mich ohne Hilfe nicht zu überwinden.
Behindert werde ich auch durch die vielen Falschparker auf Gehwegen, vor abgesenkten Bordsteinen oder an Eckbereichen von Kreuzungen. Es scheint, als ob die Ordnungsämter den Kampf dagegen aufgegeben haben. Immer wieder muss man sie daran erinnern, dass ein Umsetzen der Autos angemessen ist, wenn sie ein Hindernis oder eine Gefahrenquelle darstellen – zum Beispiel an Kreuzungen, die so zugeparkt sind, dass auch Kinder nicht gesehen werden, wenn sie über die Straße gehen wollen.
Die Radler müssen runter von den Gehwegen
Die neue rot-rot-grüne Regierung hat sich nun eine konsequente Ahndung dieser Verstöße vorgenommen. Mehr Zebrastreifen, mehr Mittelinseln und Gehwegnasen sollen allen Fußgängern helfen – und natürlich helfen sie insbesondere denjenigen über die Straße, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind. Zu denen im Übrigen auch Leute mit Gepäck, Kinderwagen oder ältere Menschen gehören.
Angesichts der angekündigten Investitionen in die Infrastruktur, insbesondere auch in den Radverkehr, muss die neue Koalition allerdings darauf achten, dass die Fußgänger nicht unter die (Zwei-)Räder kommen. Diese Klarstellung bei der Förderung der sogenannten schwachen Verkehrsteilnehmer fehlt im Koalitionsvertrag. Radler müssen runter von den Gehwegen. Laut der Straßenverkehrsordnung sind Rollstuhlfahrer übrigens Fußgänger.
Auch was den öffentlichen Nahverkehr angeht, gibt es Handlungsbedarf. Ich komme in der S-Bahn und den BVG-Bussen gut zurecht, weil ich die Arme im Gegensatz zu vielen Querschnittsgelähmten bewegen kann. Zwar wird nach Protesten von Betroffenen das automatische Absenken der Busse an den Haltestellen („Kneeling“) doch nicht abgeschafft. Aber jetzt muss es weitergehen: mit mehr Aufzügen oder Rampen an U- und S-Bahnhöfen, mit einer schnelleren Reparatursicherung bei ausgefallenen Anlagen. Die Straßenbahnen und U-Bahnen brauchen neue Fahrzeuge, die barrierefrei sind. Tatsächlich sind das Punkte, die die Koalition bis 2022 umgesetzt haben will – ein ehrgeiziger und unbedingt richtiger Plan.
Das befriedigende Gefühl, dabei sein zu können
Auch die Ausstattung von Haltestellen mit sogenannten Buskaps hat die neue Landesregierung auf dem Plan. Diese besonders markierten, erhöhten Haltestellenbereiche reservieren den Bussen einen Bereich auf der Straße und erleichtern das Ein- und Aussteigen.
Stärker einsetzen muss sich Rot-Rot-Grün hingegen für die Beibehaltung des (noch nicht inklusiven) Sonderfahrdienstes für Rollis. Dieser BVG- und Taxi-Ersatz für Rollifahrer muss nicht nur bestehen bleiben, sondern muss weiterentwickelt werden – auch wenn der Landesrechnungshof jedes Jahr die Einstellung dieser freiwilligen Leistung des Landes fordert. Dieser Sonderfahrdienst ermöglicht vielen Behinderten die Teilnahme am gesellschaftlichen Leben, sonst kämen sie gar nicht unter Leute.
Das Dabeisein in der U-Bahn oder dem Bus hat mir immer das befriedigende Gefühl gegeben, noch mitten im Leben dabei zu sein, und mich auch ein bisschen stolz gemacht, diese Fortbewegung allein zu schaffen: Inklusion eben.
Karl-Heinz Ludewig, geb. 1957 in Wolfsburg. Ludewig ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Linken-Verkehrspolitikerin Sabine Leidig im Bundestag und Sprecher des Linke-Ortsverbands Kreuzberg. Außerdem ist er Vorstandsmitglied bei der Fußgängerinitiative FUSS e. V. Er wohnt mit seiner Familie in Kreuzberg.
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