Uraufführung am Bremer Theater: Warten auf Annemarie
Mit Thomas Melles „Ännie“ beweist das Bremer Theater am Goetheplatz, dass auch eine schwächelnde Inszenierung großen Fragen gerecht werden kann.
BREMEN taz | Dass Rebellion und Terrorismus auch dann noch denkbar sind, wenn politisch nichts mehr irgendetwas bedeuten will, zeigt das Theater Bremen eindringlich bereits zum zweiten Mal in diesem Jahr. Nachdem die Moks-Produktion „Grüne Vögel“ den Islamismus Heranwachsender erforschte, macht man nun mit „Ännie“, einem Stück von Erfolgsautor Thomas Melle, eine Jugend im „Heiligen Krieg“ reflektierbar. Und das bleibt eine beachtliche Leistung, obwohl die Uraufführung am Donnerstag an der Oberfläche doch etwas ärgerlich vor sich hin holperte.
Das Mädchen Annemarie, oder eben „Ännie“, ist vor zwei Jahren spurlos verschwunden. Ob sie ermordet wurde oder untergetaucht ist, um zu töten, bleibt unklar. Zurückgelassene Freunde, Lehrer und Familie trauen es ihr jedenfalls zu: Ännie war immer schon unheimlich, hoch intelligent, frühreif und rebellisch.
Ein gewaltiger Brocken
Von da aus entwickelt Melle eine Kriminalgeschichte, die schnell aufgeht in einem Verwirrspiel aus Amoklauf, IS-Terror, Chemtrails und Verschwörungen – „Quatsch aus dem Netz“ heißt es im Stück. Es ist ein gewaltiger Brocken, den sich Nina Mattenklotz mit ihrer dritten Regiearbeit am Goetheplatz aufgeladen hat – auch formal. Denn Melle jongliert mit Zitatfragmenten, Andeutungen und Anspielungen auf Texte, die schon für sich allein schwer zu fassen sind: von Elfriede Jelinek bis zu David Lynchs legendärer Mystery-TV-Serie „Twin Peaks“.
Das war zu viel: In sperrigen, geschlossenen Monologen theoretisieren die Versammelten ihr Verhältnis zur abwesenden Hauptfigur Ännie, statt es zu spielen. Dass sie es könnten, beweisen Lisa Guth und Martin Baum mit einer wunderbar-grässlich verkorksten Affäre, von der man gern mehr gesehen hätte, statt ständig etwas erklärt zu bekommen.
Denn auch, wenn das Phrasenhafte nervt, macht das Bühnengeschehen viel wieder wett. Die kleinen um die Hauptfigur kreisenden Geschichten spielt das Ensemble überzeugend – auch miteinander, wenn sie in Chöre und Gruppenchoreografien überführt werden.
Unhaltbare Zerfaserung
Johanna Pfaus Bühnenbild greift die puzzlehafte Struktur des Dramentexts auf: ein hölzerner Setzkasten, in dem andeutungsschwangere Textbrocken neben Mädchenunterwäsche, arabischen Schriftzeichen und Gewehren kleben. Mal setzen sich auch Schauspieler hinein und sie lässt sie verschmelzen mit dem Arrangement, während sich die Geschichte unhaltbar zerfasert.
Das ist Programm: Dass mit keiner Erklärung zu rechnen ist, sagt Ännie mehrfach aus dem Off. Theoretisch unterfüttert wird es noch von Gabriele Möller-Lukasz als zauberhaft-ätzender Französischlehrerin, die einen Crashkurs in poststrukturalistischen Sprachspielen hinlegt. Denn Jacques Derrida („der Irre da“, kalauert der Text) habe ja auch Ännie sehr intensiv gelesen.
Ob das nun ein kritischer Ausbruch aus einer Welt festgeschriebener Vorurteile ist oder der Gipfel von Begriffslosigkeit und Unvernunft – darüber wird sich die Inszenierung auch nicht einiger als es die jahrzehntelange intellektuelle Debatten hinbekommen hätten. Denn so neu ist das ja alles nicht mit der irrational rebellierenden Jugend: In den 70ern wäre „Ännie“ wohl ein RAF-Stück geworden.
Ziellose Revolution
Heute gilt es, eine abstraktere Terrorgefahr zu erfassen. Nämlich die ungezielte Wut einer Jugend in der sogenannten postfaktischen Zeit. In der Mordvideos des IS selbstverständlich gesehen werden und auch jene faszinieren, die dem islamistischem Tugendterror inhaltlich wirklich gar nichts abgewinnen können. Sie sind ein Gewaltmotiv unter vielen, und konfrontieren mit der Frage, wofür jemand tötet, der doch an nichts mehr glaubt.
Ännie stellt dieses Rätsel bewusst: Sie ist nicht einfach weg, sondern „in die Wand gegangen“. Sie hat falsche Spuren gelegt, andere verwischt, und ist gerade darum allgegenwärtig. Mit geheimen Internetbotschaften inspiriert sie Nachfolger. Wer sie liest, heißt es da, gehört allein darum schon zum Widerstand.
Schrille Samples, grelles Licht und laute Schüsse machen körperlich erfahrbar, wie eine ziellose Revolution elektrisieren kann. Bis es irgendwann abflaut und schließlich unbefriedigt zurücklassen muss. Denn: Theater, das statt mit Fragen hier mit Antworten angetreten wäre, hätte sich bis auf die Knochen blamiert.
Termine: Samstag sowie 16., 21. und 29. 12, jeweils 20 Uhr, und 11. 12., 18.30 Uhr, Kleines Haus, Theater am Goetheplatz, Bremen
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