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Süchtig nach Berlin, der Metropole

Blick von außen Denke ich an eine Kultur des Schöpferischen, dann denke ich an diese Stadt, schreibt unsere griechische Gastautorin. Mehr noch: Berlin sei das kulturelle Herz des Kontinents. Ein langes Lob

Schön? Hässlich? Jedenfalls erdrückend: Berlins neue Architektur

von Elena Taxidou (Text und Fotos)

Mittlerweile wird fast jede größere Stadt, die urbane Charakterzüge aufweist, zur Metropole gekürt. Man kann so dabei zusehen, wie der Begriff an Substanz verliert. Denn natürlich taugt nicht jede Großstadt zur Metropole. Ich will versuchen zu beschreiben, warum ich Berlin für eine wahre europäische Metropole halte.

Was soll eine Metropole bieten? Zum einen schlicht täglich etwas Neues, Beeindruckendes. Das klingt oberflächlich, beschreibt aber, was den Gutteil einer zeitgenössischen Metropole ausmacht. In ihr gibt es, im Gegensatz zu Nichtmetropolen, „immer“ „alles“ „rund um die Uhr“.

Elena Taxidou

26, arbeitet beim Magazin Parallaxi in Thessaloniki. Sie war über den Journalistenaustausch "Nahaufnahme" des Goethe-Instituts für einen Monat in Berlin bei der taz. taz-Redakteurin Harriet Wolff geht im Dezember nach Griechenland. Weitere Infos unter: www.goethe.de/nahaufnahme

In Berlin trifft das zu: Hier können die fast vier Millionen EinwohnerInnen 365 Tage im Jahr durchfeiern und trinken gehen, am nächsten Tag zur Vernissage ihrer Kunstausstellung antreten, in einem Loft an einer Brainstorming-Session teilnehmen oder neue Austeritätsmaßnahmen verabschieden.

Doch nicht nur deshalb erfüllt Berlin die Kriterien einer modernen Metropole. Die Stadt hat es geschafft, dergestalt an ihrem Image zu basteln, dass wir sie nicht in erster Linie als Hauptstadt Deutschlands wahrnehmen, einem Land mit nicht unproblematischem Image in der Welt. Und mit „wir“ meine ich all diejenigen, die wie ich nicht aus Deutschland kommen.

Diese Stadt bekommt es hin, in die Breite und Höhe zu wachsen, ohne dabei Himmel und Boden zu verschlucken

Die Stadt hat es fertig gebracht, zum europäischen Entscheidungszentrum schwerwiegender politischer Beschlüsse zu werden, die Menschenleben Tausende Kilometer entfernt beeinflussen – ohne dass diese Tatsache ihrem Image schadet. Stattdessen werden sie nicht mit Berlin, sondern mit dem Land in Verbindung gebracht, dessen Hauptstadt Berlin ist.

Dazu kommt: Berlin hat in Europa ein einzigartiges Image. Die Stadt ist heute das kulturelle Herz des Kontinents. Denke ich an eine Kultur des Schöpferischen, dann denke ich an diese Stadt. Das Bild ist so stark, dass Neuankömmlinge fast erwarten, direkt nach der Ankunft am Flughafen einem hyperaktiven Künstler mit einer Spraydose in der Hand über den Weg zu laufen, um bei der Gepäckausgabe auf spontan organisierte Partys von Musikern zu stoßen.

Diese Stadt bekommt es auf ihre ganz eigene Art und Weise hin, in die Breite und in die Höhe zu wachsen, ohne dabei Himmel und Boden zu verschlucken. Hier wird kreuz und quer an der halbwegs frischen Luft geradelt, während auf der Nebenspur abgaslastige Autos rasen. Hier gibt es Seen, Bäume und jede Menge Fahrräder neben riesigen digitalen Werbeflächen, Starbucks an gefühlt jeder Ecke, mit Zigarettenstummeln übersäte Gehsteige und Abfälle neben den Abfalleimern.

Lichter – und Schatten – der Großstadt

Die Stadt hat keine Leichen mehr im Keller. Sie hat ihre Vergangenheit verarbeitet, ohne sie zu fürchten, sichtbar etwa an der „Topographie des Terrors“. Diese Vergangenheit ist in aller Öffentlichkeit präsent: damit sie nicht vergessen und vielleicht irgendwann verstanden wird. Die Stadt bleibt nicht im Gestern und Vorgestern stecken und nutzt das manchmal sogar – wenn auch bisweilen ungeschickt – als touristische Attraktion, etwa am Checkpoint Charlie. Es gehört Mut dazu, wenn eine Stadt die Verantwortung für ihre Vergangenheit übernimmt, indem sie sie so vor aller Augen lebendig erhält. Davor verneige ich mich.

Man verliebt sich schnell in diese Stadt

Vor allem hat Berlin einen zukunftsträchtigen Rahmen für Kulturschaffende gezimmert; sie ist eine europäische Wiege künstlerischen Schaffens. Aktuell leben und arbeiten hier mehr als 60.000 KünstlerInnen. Berlin ermöglicht ihnen absolute Ausdrucksfreiheit wie auch immer wieder Künstlervisa. Die Stadt ist wie ein Magnet für alle Wesen der Kunst.

Die Drogen- und Alkoholtoleranz, die Offenheit gegenüber dem Anderssein sowie das Berghain und andere Clubs sind weitere kompromisslose Charakteristika dieser Stadt. Ich sehe eine Metropolendynamik, auch bedingt durch linke und feministische Impulse und durch eine ausgewachsene Protestkultur, wie zuletzt wieder bei TTIP. Pluralismus ist das Stichwort – da können das Kanzleramt oder Herr Schäuble noch so mächtig oder wertkonservativ draußen in der Welt auftreten. Habe ich etwas vergessen? Vielleicht Neonazis, aber dann wiederum gibt es hier eine der größten LGBT-Communitys auf der Welt.

Laufend passiert hier was

Ja: Berlin erfüllt alle Merkmale einer zeitgenössischen Metropole. Und dabei ist es der Stadt auch noch egal, ob du sie liebst oder nicht. Sie macht dich sowieso fast süchtig nach ihr.

Aus dem Griechischen von Maria Brand

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