Drogenszene in Frankfurt am Main: Ameisenhandel auf der B-Ebene
Die Zahl der Dealer im Bahnhofsviertel schnellt seit dem vergangenen Jahr in die Höhe. Eine Erkundung bei Händlern, Abhängigen und der Polizei.
Frankfurt: Zwischen Bahnhof und Wolkenkratzer gibt es für 20 Euro Sex, den Crackstein für 10 Euro, auch Waffen soll man hier kaufen können. Seit Jahrzehnten gilt der Ort als ein krimineller Brennpunkt im Land. Und während in den vergangenen Jahren eher über Verdrängung und steigende Mieten diskutiert wurde, rückt nun die altbekannte Drogenproblematik wieder in den Fokus.
Seit Sommer vergangenen Jahres zeigen sich mehr Dealer im Bahnhofsviertel. 30 bis 40 Drogenverkäufer tummeln sich täglich an der Ecke Düsseldorfer und Niddastraße, vorher seien es nur drei oder vier gewesen. Ebenfalls betroffen: die Untergrundpassage des Frankfurter Bahnhofs, die „B-Ebene“. In der Tasche haben die Dealer meist nur ein paar Gramm Marihuana, die sie mit Zurufen versuchen, an Passanten loszuwerden.
„Wir reden hier von Ameisenhandel“, sagt Polizeihauptkommissar Matthias Block-Löwer. Drei silberne Sterne auf einer blauen Uniform trägt der Beamte und sitzt in seinem Büro des Polizeireviers 4: „Beschwerden kommen von Pendlern und Anwohnern.“ Beklagt werden Kot und Urin, Pöbeleien, benutzte Spritzen. Mehr als 140 Einsätze habe die Polizei deshalb seit Januar im Viertel gestartet, um die kleinen Dealergruppen aufzulösen. Auch größere Razzien gab es. Doch gegen die erhöhte Anzahl der Verkäufer könne man nichts machen. Die kleinen Mengen, die die Personen bei sich tragen, rechtfertigten keinen Haftbefehl.
An jedem Eingang stehen Drogendealer
Der Hauptkommissar sagt, es brauche viel Zeit für Ermittlungen, um an die Hintermänner zu kommen. Erfolgreicher sei man bei Zwischenmännern. Die halten sich auch in Bahnhofsnähe auf und versorgen die Straßenverkäufer mit Nachschub.
Mit besonders vielen Dealern, die kleine Mengen bei sich tragen, lässt sich das Straßengeschäft weitestgehend an der Polizei vorbei machen. Und da zeigt sich dann auch schon die nächste Auffälligkeit. Für diese Strategie braucht man mehr Beamte – stattdessen stiegt die Anzahl der Dealer ausgerechnet im vergangenen Sommer. Mehr als die Hälfte der Festgenommenen aus der neuen Kleindealerszene seien in Flüchtlingsunterkünften untergebracht, erklärt der Polizist; die meisten von ihnen kämen aus den Maghrebstaaten, keine Syrer. Über die Hintergründe, wie die Drogen in die Stadt kommen, und wie die Dealer rekrutiert werden, weiß die Polizei bisher wenig.
Am Tag in der B-Ebene. In Frankfurt ist Buchmesse. Durch die Gänge schieben sich Menschenmassen. An jedem Eingang stehen Drogendealer, machen ihre Geschäfte hinter den Ticketautomaten. Sie sprechen Rentner an, Kinder, Anzugträger. Die Ladenbesitzer verfolgen hinter ihren Schaufenstern das Treiben täglich. „Die wissen gar nicht so richtig, was die da machen“, sagt ein Besitzer. Eine Frau von einem Reinigungsgeschäft erzählt, dass sie hier schon mehrere Razzien mitbekommen hat.
Nachts, zehn Stunden später, schlendert der Drogenabhängige Christian W. durch die Bahnhofspassage. Er trägt eine vollgepackte Plastiktüte mit Kleidung. Im Gesicht des 41-Jährigen zeigt sich ein intensives Leben. Seit 23 Jahren „lebt“ er hier im Bahnhofsviertel, wie er sagt. Er schaut umher, ein anderer Drogenabhängiger mit langem Bart und ohne Zähne kommt ihm entgegen. Christian W. rempelt ihn an: „Hast du noch was?“, der Zahnlose schüttelt den Kopf.
Seit 23 Jahren raucht er mehrmals am Tag „Base“, „nicht das amerikanische Crack“; das gäbe es in Deutschland nicht. „Die strecken das Kokain mit einem anderen Backpulver. Wir nennen das ‚Base‘ oder einfach ‚Stein‘. Das klimpert nicht so die Knochen weg.“ 15 Sekunden nach dem Inhalieren beginnt der Rausch. Crack, noch mehr als Heroin, gilt als die gefährlichste Droge in der Szene.
Christian W. setzt sich an den hell beleuchteten Bäcker, dem einzigen Geschäft, das noch geöffnet hat. Fünf Sicherheitsbedienstete laufen mit einem Hund vorbei. Ein Betrunkener steht an der Bäckertheke, kann kaum noch stehen. „Jetzt verpiss dich endlich hier“, sagt einer der breit gebauten Sicherheitsleute zu dem Betrunkenen. „Entschuldigung“, antwortet der lallend. Christian W. duckt den Kopf: Die Polizei sei nur nervig, aber dieser Sicherheitsdienst fange immer mit Pöbelei an.
Private Sicherheitsdienste ohne passende Ausbildung
Die B-Ebene hat ein Zuständigkeitsproblem. Für den Hauptbahnhof selbst ist die Bundespolizei zuständig, für alles außerhalb die Landespolizei des Polizeireviers 4. In der Untergrundpassage teilt man sich die Verantwortung. Weil die Bundespolizei an die Grenzen geholt wurde, waren die Bahnhöfe zeitweise unterbesetzt. Private Sicherheitsdienste, meist mit Personal ohne passende Ausbildung, sollen nun mit für Sicherheit sorgen in einem Bahnhof, der täglich eine Million Pendler zählt.
Rund 100 Meter entfernt stehen die Base-Abhängigen an den Eingangstreppen. Es knackt, wenn sie rauchen. Eine Frau lässt einen Zigarettenstummel fallen, zwei der Junkies stürzen sich auf den Stummel. Sie verwenden die Reste für ihre Pfeifen.
„Die Polizei hatte hier aber auch noch nie große Ahnung“, sagt Christian W. Jeder wisse: Am Bahnhof in Frankfurt bekommt man immer was. „Das wird sich auch nie ändern.“ Meist verbringt er den ganzen Tag im Viertel damit, kleine Mengen zu kaufen, wieder gewinnbringend zu verkaufen, um so über den Tag zu kommen. Nur ein einziges Mal habe es die Polizei geschafft, wirklich alle Hähne am Bahnhof zuzudrehen. Das sei schon Jahre her. Da mussten er und ein paar andere mit Entzugserscheinungen so lange herumtelefonieren, bis sie mit einem Sammeltaxi abgeholt wurden, das sie vor ein Bürogebäude brachte. „Da kam ein Mann im Anzug raus und gab uns einen Koffer. Wie im Film“, erinnert sich Christian W.
Zwischen 350 und 400 Drogenabhängige halten sich im Bahnhofsviertel auf. „Viele von ihnen sind inzwischen alt“, erzählt Wolfgang Barth, Leiter des Drogennotdienstes im Bahnhofsviertel. Er ist groß gewachsen, kräftig, hat längere Haare. In seiner mehrstöckigen Einrichtung finden die Drogenabhängigen Schlafmöglichkeiten, soziales Leben, etwas zu Essen und auch die „Drückerstuben“. Die Räume, in denen die Abhängigen mit sauberem Besteck ihre Drogen nehmen können, wurden 1994 mit viel Gegenwind eingerichtet. Der „Frankfurter Weg“ wird von den Beteiligten noch immer als der richtige bezeichnet. Die Zahl der Drogentoten ist von 142 im Jahr 1992 auf heute 20 im Jahr zurückgegangen.
Die Drogenrentner
Der Sozialpädagoge Wolfgang Barth steht vor der Schlange des Ärzteraums, an dem diePrivate Sicherheitsdienste, meist mit Personal ohne passende Ausbildung, gehören zur Generation Christiane F. Diskussion im Warteraum. Ein älterer kleiner Herr mit Hut und Stock sagt: „Eigentlich ist alles wie immer.“ Dass nun ausgerechnet die paar Kleindealer mit ihrem Marihuana dafür sorgen, dass einige den Frankfurter Weg kritisieren, findet er unverhältnismäßig.
Draußen vor dem Gebäude sammeln sich die Abhängigen. Casinos, Bordelle, Stundenhotels und Sexkinos. Ein Polizeiwagen fährt vor. Schon 1992 hängte Uwe Barth ein Schild unten in den Eingangsraum: „Wer dealt, fliegt raus“. Daran halten sich wohl auch alle. Regelmäßig fährt das Ordnungsamt oder die Polizei vor und hält für ein paar Minuten, um Präsenz zu zeigen. Die Zusammenarbeit mit den anderen Institutionen laufe sehr gut, sagt Barth. In regelmäßigen Treffen bespreche man Veränderungen in der Szene.
„Zur Drogennotstelle kommt aber nur ein kleiner Teil der Abhängigen.“ In anderen Gruppen treffen sich auch Anwälte, Ärzte – Drogenkonsum zieht sich durch die ganze Gesellschaft. Kokain sei in der Leistungsgesellschaft gefragt wie nie. Doch nur an den Brennpunkten sei der Drogenkonsum sichtbar. Und das sei in Frankfurt mit dem Bahnhof ausgerechnet das Eingangstor der Stadt.
Das sah auch Ordnungsdezernent Markus Frank (CDU) so, der kürzlich die Justiz dafür verantwortlich machte: Einige der Dealer auf der Straße hätten bereits 50 Straftaten begangen, und seien immer noch auf der Straße. Die Staatsanwaltschaft und das Amtsgericht wiesen den Vorwurf zurück.
Auch der Dealer mit den braunen kurzen Locken hat schon mehrere Polizeikontrollen hinter sich. Er ist 22 Jahre alt. Er kommt aus Spanien, sagt er – seine Eltern aus Marokko. Seit drei Monaten dreht er jeden Tag seine Runden im Bahnhofsviertel. Ein Kollege kommt vorbei. „Kein Geld – aber hier: viel Geld“, sagt er auf Deutsch und deutet auf die Wolkenkratzer im Hintergrund. Dann lacht der andere. Sie müssen jetzt los.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nahost-Konflikt
Alternative Narrative
Nach der Gewalt in Amsterdam
Eine Stadt in Aufruhr
Putins Atomdrohungen
Angst auf allen Seiten
+++ Nachrichten im Nahost-Krieg +++
IStGH erlässt Haftbefehl gegen Netanjahu und Hamas-Anführer
Die Wahrheit
Der erste Schnee
Krise der Linke
Drei Silberlocken für ein Halleluja