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Ferienfahrt wird zum Albtraum

Auf einer Kinderreise wird ein sechsjähriger Junge sexuell missbraucht. Der einzige Betreuer, ein 1-Euro-Jobber, ist völlig überfordert. Die Mutter sieht eine Mitverantwortung des Reiseveranstalters

VON PLUTONIA PLARRE

Wer Auto fahren will, braucht einen Führerschein. Wer eine Imbissbude aufmachen will, muss ein Gewerbe anmelden. Nur private Reiseveranstalter, die betreute Kinderfahrten durchführen, unterliegen keiner Kontrolle. Dabei ist die Zahl der Anbieter riesig: 30.000 bis 40.000 Berliner Kinder und Jugendliche nehmen pro Jahr an privaten Ferienreisen teil. „Wir bitten die Eltern, selbst darauf zu achten, ob die angebotene Qualität stimmt“, so der Sprecher der Senatsjugendverwaltung, Jens Stiller, zur taz.

Gabriele X.* hat versucht, auf Qualität zu achten, als sie ihren sechsjährigen Sohn Jakob* in den Pfingstferien mit dem Veranstalter „Wilder Pfeffer“ für vier Tage nach Klein Wall bei Erkner auf Kinderreise schickte. Immerhin war die Fahrt damit beworben worden, dass „Wilder Pfeffer“ „der Reisebereich der gemeinnützigen Pfefferwerk Stadtkultur gGmbh“ sei – ein anerkannter freier Träger der Jugendhilfe. Er organisiere seit 1993 Erlebnisreisen.

Für Jakob ist die Reise zu einem Erlebnis ganz anderer Art geworden, das er wohl nie mehr vergisst. Wie ein Justizsprecher der taz bestätigte, stehen ein 12-jähriger und ein 15-jähriger Junge im Verdacht, Jakob sexuell missbraucht zu haben. Auch an zwei anderen, ebenfalls jüngeren Kindern sollen sich die Älteren vergangen haben. Jakob hatte die Tat seiner Mutter nach seiner Rückkehr offenbart.

Die Ermittlungen gegen die zum Teil strafunmündigen Tatverdächtigen sind das eine. Das andere ist das Verhalten des Trägervereins Pfefferwerk. Jakobs Mutter, die den Fall öffentlich gemacht hat, hat gegen dessen Geschäftsführung Strafanzeige erstattet: „Die Sicherheit der Kinder ist im Sinne von finanziellen Interessen mutwillig und fahrlässig aufs Spiel gesetzt worden.“

Dass bei der Fahrt schwerwiegende Mängel gab, wird von Sprecher Stiller nicht bestritten. Im Prospekt war versprochen worden, die Kinder würden von gut geschulten Betreuern begleitet. Die zwei erfahrenen Pädagogen, die sich um die neun Kinder hätten kümmern müssen, gab es jedoch nicht. Der einzige Betreuer war ein 1-Euro-Jobber, der von dem Vorfall, der in der Mittagspause im Kinderbungalow passiert, nichts mitbekam. Eigentlich darf ein 1-Euro-Jobber nicht alleine eine Gruppe betreuen.

Recherchen von Jakobs Mutter zufolge sah sich der Mann von der Kinderhorde überfordert und telefonierte in der Berliner Zentrale nach Verstärkung. Die kam aber nicht. Außerdem wirft Jakobs Mutter dem Pfefferwerk vor, sie getäuscht zu haben: Ihr sei zugesagt worden, dass die Gruppe nur aus 6- bis 12-Jährigen bestehe. Tatsächlich reisten auch ein 13- und ein 15-Jähriger mit.

Das Pfefferwerk erklärt lediglich mit einer mageren Presseerklärung: Aufgrund der laufenden Ermittlungen könne man sich nicht zu dem Vorfall äußern. Zudem biete der „Wilde Pfeffer“ seit dem 1. September keine Reisen mehr an. Jens Stiller spricht von einem „gravierenden Einzelfall“. Das Pfefferwerk habe „prompt und adäquat“ reagiert. Der Reisebereich sei geschlossen; er gehe davon aus, dass alle Mängel abgestellt seien.

Prompt und adäquat – darunter versteht Jakobs Mutter etwas anders. Sie sei der Geschäftsführung monatelang vergebens mit der Bitte um ein klärendes Gespräch hinterhergelaufen und habe fast alle Details selbst in Detektivarbeit herausfinden müssen.

Die Tendenz, auf Tauchstation zu gehen, scheint auch bei anderen Geschäftsführern von Kinderprojekten verbreitet – selbst wenn es um weitaus harmlosere Fälle geht. Die Mutter eines 12-jährigen Jungen, der mit einem Veranstalter des Jugendzirkus Cabuwazi auf Reisen war, musste zweieinhalb Monate auf eine persönliche Antwort der Geschäftsführung auf ihre Briefe warten. Ihr Sohn war vorzeitig von der Reise nach Hause geschickt worden.

* Namen geändert

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