piwik no script img

Soloalbumdebüt von Crooked ManNull Bock auf Taubenkot

Licht im Schatten: Crooked Man aus Sheffield veröffentlicht sein Debütalbum – stilbewusster elektronischer Pop zum Tanzen.

Fotos sind Crooked Man lästig, lieber lässt er sich von seinem Kumpel Pipes zeichnen Foto: Cooperative Music

Musik aus dem Abseits, auch dafür wurde schließlich Pop ins Leben gerufen: Um Licht auf Schatten zu werfen. Um Geschichte in der Gegenwart spiegeln zu lassen. Um eine Kollektion elektronischer Songs zu entwerfen, die die Welt einfach gehört haben muss: Ladys and Gentlemen, der britische Künstler Crooked Man und sein Debütalbum „Crooked Man“.

Fotos findet er lästig, der bucklige Mann, so benannt nach einem Reim, den in England jedes Kind kennt. „Meine Lieblingsplatten umgibt eine mysteriöse Aura. Ich weiß weder, wer sie produziert hat, noch unter welchen Umständen sie entstanden sind, geschweige denn, warum sie überhaupt veröffentlicht wurden. Mehr als Bilder und Informationen haben mich immer Gefühle interessiert, die aus den Rillen der Platten direkt zu mir dringen, das macht sie für mich einzigartig“, erklärt Richard Barratt alias Crooked Man im Gespräch.

Barratt kommt aus der nordenglischen Industriestadt Sheffield, Zentrum der britischen Stahlindustrie. Der Rauch aus den Schloten, das Hämmern der Maschinen, Gestank und Dreck inspirierten schon George Orwell, der Sheffield „sinistre Pracht“ bescheinigte.

Sicher auch, weil die Stadt im Zweiten Weltkrieg von Hitlers Luftwaffe bei Bombenangriffen verheert wurde. In den Achtzigern hieß die Gegend „People’s Republic of South Yorkshire“ und im Rathaus wurde auch mal die Rote Fahne gehisst.

Not Amused

In der Abstimmung über die Zugehörigkeit zur EU hat Sheffield mehrheitlich für Leave gestimmt. Barratt ist darüber not amused. „Ironischerweise ist die EU eine der wenigen verbliebenen Institutionen, die überhaupt noch bei uns Geld investiert. Offenbar haben sich die Menschen ein leichtes Opfer für ihren Frust gesucht. Und rechte Populisten nutzen deren Verzweiflung aus.“

Sheffield mutet eher unromantisch an. Auch heute noch fallen Ruinen ins Auge und die schroffe brutalistische Hochhaus-Architektur der fünfziger und sechziger Jahre, die das moderne Stadtbild Sheffields prägen. Aber: „Das Stadtgebiet grenzt an den Peak District, einen Nationalpark, der die Konturen von Fabrikhallen und Industrieansiedlungen weichzeichnet, das macht schon einen Unterschied“, sagt Barratt.

Beim Tanzen brauche ich Vielfalt. Die Taubenscheiße im Taubenschlag ist mir zu eintönig

Richard Barratt

„Die Einwohner sind traditionell selbstständig und unabhängig. Im 19. Jahrhundert gab es viele kleine Gemeinden, in denen die Menschen eher Geborgenheit suchten als im Schoß der Mainstream-Kirche. Viele Handwerker werkelten in Kleinbetrieben, sie haben ihre Arbeitszeiten zum Teil selbst bestimmt. Diese Haltung lebt bis heute in unserer Musik fort.“

Von Cabaret Voltaire bis Sweet Exorcist

Cabaret Voltaire, Human League, Clock DVA, Warp Records, Pulp, Roísín Murphy. Alle jene Bands und Künstler kommen aus Sheffield oder verbrachten dort entscheidende Jahre ihrer Karriere. Was sie vereint, ist ein Wille zum Experiment. Barratt hat mit ihnen zusammengearbeitet. Er begann 1985 als DJ Platten aufzulegen, bald auch war er Toningenieur in einem Studio und veröffentlichte hin und wieder eigenes Material.

Crooked Man-Album

Crooked Man: „Crooked Man“ (DFA/PIAS/Cooperative Music)

1990 etwa startete Barratt zusammen mit dem Cabaret-Voltaire-Mitglied Richard H. Kirk das Projekt Sweet Exorcist. Sie brachten das allererste Album auf Warp heraus: Clonks und Bleeps nannte man ihre elektronische Tanzmusik, wegen der fiependen und funzenden Signaltöne und subsonischen Basslines. Das Label Warp wurde zum Vorbild einer Plattform, die unabhängig elektronische Tanzmusik veröffentlicht.

Sheffield war eines der Zentren des britischen Postpunk, House und Techno brachten um 1989 aber noch mehr Leute auf die Beine, das Zeitalter der Raves wurde in Nordengland eingeläutet. Barratt war zunächst begeistert, aber schon bald nervte ihn die linientreue Auslegung dieser Partykultur. „Wenn ich ausgehe, möchte ich gern unterschiedliche Sachen hören. Der Taubenkot im Taubenschlag ist mir zu eintönig.“ Die neun Tracks seines „Crooked Man“-Albums gestaltet Barratt vielfältig, genau wie die jüngere Geschichte Sheffields, die auch ein Stück weit seine ganz eigene ist.

Singende Hihats

Mal lässt er lupenreines deepes House-Gezatter vom Stapel, wie in dem Track „Fools and Fanatics“, ultraenergische Musik, bei der Hihats wie Engel singen. Mal ruckelt und zuckelt die düstere Seite der elektronischen Musik, beim Auftakt „Coming Up to Air“, der das Ambienthafte von Cabaret Voltaire ins digitale Zeitalter transportiert. „Scum Always Rises to the Top“ ist eine laszive zwölfminütige Schimpfkanonade, inspiriert von der Finanzkrise 2007. Alles hat hier seinen Platz. Auch die Neufassung der Northern-Soul-Nummer „I’ll Be Loving You“ von Soul Brothers Six, die dem Upliftenden des Originals etwas mehr nordenglischen Desperado beimischt.

Und dann ist da noch „This Machine kills me“, das tollwütige, mitreißende, extrem tanzbare Manifest eines Künstlers, den mit dem Internet eine Hassliebe verbindet. „Natürlich finde ich es angenehm und verführerisch, die Menge an Informationen, die Hypnose des Knopfdrucks. Aber gleichzeitig verabscheue ich den Raum, den das Internet in meinem Leben einnimmt und den Universalismus, der damit einhergeht, dass die Menschen vergessen haben, wie sie ohne Netz glücklich leben. Auch beängstigt mich, wie Hassfiguren schnell und unkompliziert Online-Freunde und -Gleichgesinnte finden. Und ich finde auch bedenklich, dass durchs Internet viele Künstlerkarrieren kaputtgemacht wurden. Nicht die der Stars, sondern die des Undergrounds.“

Dass Richard Barratt erst 53 Jahre alt werden musste, bis nun heute endlich sein Solodebütalbum erscheint, man kann es auch positiv sehen, es ist eine unglaubliche Story, die man mit poetic justice rechtfertigen kann. William Wordsworth hatte recht: „Werdet mit mir alt, das Beste kommt erst noch.“

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!