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Wohlfahrtsverband über Hartz-IV„Es geht nicht nur ums Überleben“

Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband verlangt 520 Euro für Hartz-IV-Bezieher. Erst dann sei Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich.

Ein Stück Kuchen einmal im Monat sollte schon drin sein Foto: ap
Pascal Beucker
Interview von Pascal Beucker

taz: Herr Schneider, warum halten Sie den von der Bundesregierung geplanten Anstieg der Hartz-IV-Regelsätze für zu niedrig?

Ulrich Schneider: Mit der kümmerlichen Regelsatzerhöhung werden Menschen weiter ausgegrenzt. Diese 409 Euro lassen nicht mal ein Minimum an Teilhabe an dieser Gesellschaft zu. Sie sind das Ergebnis eines geradezu abenteuerlichen Mixes von willkürlichen Eingriffen in die Statistik und nickeligen Streichungen bei Ausgabenpositionen. Das hat mit einem soziokulturellen Existenzminimum nichts mehr zu tun.

Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert eine Erhöhung auf 520 Euro. Wie begründen Sie die Differenz?

Wir haben praktisch die gleichen Berechnungen durchgeführt wie die Bundesregierung. Nur haben wir einige der willkürlichen Eingriffe in die Statistik unterlassen. Zum Beispiel haben wir die Referenzgruppe nicht auf 15 Prozent der Ärmsten angesetzt, sondern auf die untersten 20 Prozent, wie das früher auch der Fall war. Dann hat man schon mal 20 Euro mehr im Regelsatz. Zudem haben wir eine ganze Reihe von Positionen in unsere Berechnung einbezogen, die die Bundesregierung aus unserer Sicht zu Unrecht gestrichen hat.

Welche notwendigen Ausgaben fehlen Ihres Erachtens in der Berechnung des Bundesarbeitsministeriums?

Da wurden sogar Cent-Beträge für die chemische Reinigung gestrichen, für einen Weihnachtsbaum, für Grabschmuck oder Hamsterfutter. Da wird Menschen verunmöglicht, wenigstens einmal im Monat in ein Café zu gehen und sich ein Stückchen Kuchen zu gönnen. Bei der Bekämpfung von Armut geht es doch nicht nur um Ausgaben, die man zwingend zum bloßen Überleben braucht. Es geht doch auch darum, wenigstens auf bescheidenstem Niveau Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich zu machen.

Welche Erklärung haben Sie für das Vorgehen von Bundesarbeitsministerin Andrea Nahles?

Frau Nahles ist Ministerin einer Bundesregierung, die schlechterdings kein Geld ausgeben will. Deshalb handelt sie so, nämlich gegen ihre eigene Überzeugung. Noch im Jahr 2010 hat sie die Kritik des Paritätischen voll geteilt. Die SPD-Bundestagsfraktion hat damals sogar einen Antrag in den Bundestag eingebracht, in dem sie forderte, dass der Regelsatz genau so bemessen werden soll, wie wir es nun getan haben. Wäre Frau Nahles ihrer Überzeugung treu geblieben, hätte sie auch auf 520 Euro kommen müssen.

dpa
Im Interview: Ulrich Schneider

58 Jahre, ist Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes und Autor zahlreicher Publika­tionen zum Thema Armut.

Was würde sich durch die von Ihnen vorgeschlagene Expertenkommission verbessern?

Was braucht ein Mensch? Diese entscheidende Frage ließe sich nicht mehr hinter statistischen Spielchen verstecken, wenn sich eine unabhängige Expertenkommission mit ihr beschäftigen würde. Wir hätten dann eine transparentere Diskussion und ein demokratischeres Verfahren.

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10 Kommentare

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  • taz: "Ulrich Schneider vom Paritätischen Wohlfahrtsverband verlangt 520 Euro für Hartz-IV-Bezieher."

     

    Solange die BMAS in Zusammenarbeit mit der BA sich frech anmaßt, darüber zu urteilen, ob man einem Hartz IV Empfänger das Existenzminimum kürzen oder sogar vollkommen streichen kann, weil der Hartz IV Bezieher es ablehnt sich nach § 10 SGB II zum Hilfsarbeiter degradieren zu lassen, müssen wir hier nicht über eine Erhöhung des ALG II Geldes reden. Dass § 10 SGB II mit dem Art. 12 GG kollidiert und § 10 SGB II eigentlich grundgesetzwidrig ist, sollten auch die Politiker wissen die keine ausgebildeten Juristen sind. Zuerst muss unseren Volksvertretern auch einmal bewusst gemacht werden, dass wir in einem demokratischen Sozialstaat leben (Art. 20 Abs. 1 GG) und wenn ein Staat dabei zuschaut wie "Wirtschaftsfürsten mit Millionengehältern" systematisch Arbeitsplätze abbauen aber unseren Politikern (z.B. Andrea Nahles SPD) nichts anderes dazu einfällt als die Arbeitslosen mit Sanktionen zu demütigen, anstatt mal bei den Wirtschaftsfürsten auf den Tisch zu hauen, dann bringt eine Erhöhung auf 520 Euro für die Hartz IV Empfänger auf Dauer auch keinen sozialen Frieden. Fakt ist, es gibt in einer Welt voller Maschinen, Automaten, Computern und regelungsgesteuerte Fabrikstraßen immer weniger sinnvolle Jobs für den deutschen Arbeiter, aber das möchte Ulrich Schneider merkwürdigerweise auch nicht ansprechen. Was wir brauchen ist zunächst einmal eine Arbeitszeitverkürzung auf 30 Stunden die Woche, wie sie seit Jahren der Wirtschaftswissenschaftler Prof. Dr. Bontrup fordert, und danach das bedingungslose Grundeinkommen, wie Götz Werner u.a. es seit Jahren fordern. Wer etwas von Halbleiterphysik, Differentialgleichungn und Computeralgebra versteht, der weiß, Arbeit und Jobs für Menschen wird es bald nicht mehr geben. Dass es dann einen Aufstand der Besitzlosen gibt, ist vollkommen klar, nur unsere Politiker wollen das nicht einsehen.

  • Dann müsste diese angedachte Expertenkommission zur ständigen Einrichtung werden - angesichts der leuchtenden Augen mit denen sich der Handel vorab sicher schhon gleich die Hände reibt um sich diese Reserven schon mal mit Preiserhöhungen in den Segmenten mit den lukrativsten Handelsspannen zu sichern.

     

    Daneben sollte sich diese Kommission mit den vielen angeblichen sozialen Leistungen des Staates beschäftigen, die in Wirklichkeit nur bloße Augenwischerei und Blendwerk zu Lasten der Hartz-IV-Empfänger sind, weil sie ja mit deren Regelsatz verrechnet werden.

  • Her mit den Apple-Milliarden -

    Andrea Nahles zahl deine sozialwidrig geklauten Essens-Gutscheine zurück!

  • Nein, mit einem "soziokulturellen Existenzminimum" hat der "abenteuerliche[] Mix[] von willkürlichen Eingriffen in die Statistik und nickeligen Streichungen bei Ausgabenpositionen" vermutlich nichts zu tun. Wohl aber etwas mit den aktuellen Machtverhältnissen und einer sehr, sehr traditionellen Auslegung der damit verbundenen Rechte und Pflichten – mit einem soziokulturellen Existenzmaximum also, wenn man so will.

     

    "Den Starken etwas wegzunehmen, ist sehr riskant. Den Schwachen etwas wegzunehmen, ist einfacher. Ich darf das und ich kann es, also will ich es. Und was ich will, das mache ich. Hindere mich doch daran, wenn Du das kannst bzw. darfst." So ungefähr sieht die "Denke" aus, die hinter Hartz-IV steht (und hinter einer ganzen Reihe anderer Gesetze auch). Leute, die sich permanent von Ausgrenzung bedroht fühlen, um des ganz privaten Aufstiegs willen aber nicht das Weite suchen wollen, "rächen" sich für ihre ärgerliche Lage, indem sie andere mit Ausgrenzung bedrohen.

     

    Nach "oben" kommen und da bleiben heißt hier und heute eben immer noch: nach "unten" treten. Nur wer das kann und will, wird ausgewählt von denen, die schon "oben" sind. Auch eine Art Selektion, wenn auch keine natürliche.

     

    Ob eine "Expertenkommission" tatsächlich etwas ändert an den Mindestsätzen? Das kommt drauf an. Darauf, zum Beispiel, wer diese Experten in die Kommission beruft und nach welchen Kriterien er sie auswählt. :-(

    • @mowgli:

      Auch, wenn ich ihrer grundsätzlichen Logik nicht widersprechen möchte, dass bei Schwachen eher zuzulangen leichter ist.

       

      Aber einen geringeren Anstieg als gewünscht einer Regelleistung zur Existenzsicherung von jemandem der dies aus eigener Kraft (das ja die Definition) nicht schafft mit "Etwas wegnehmen" zu beschreiben suggeriert schon einen etwas verschobenen Ansatz.

      • @Krähenauge:

        Was soll das sein, "aus eigener Kraft"?

        In einer modernen Gesellschaft mit all ihren Vernetzungen und Abhängigkeiten gibt es das nicht. Jeder Aufstieg, jedes Geldverdienen kann nur erfolgen, wenn rechtliche und institutionelle Rahmen es zulassen.

        Dementsprechend ist Reichtum in der modernen Gesellschaft immer zugleich auch gesellschaftlicher Reichtum. Und als solcher kann er, wie es im Falle der Regelungen bei ALG II ja auch geschieht, Einzelnen "weggenommen" werden indem ihnen nicht zugestanden wird, was sie zur Mindestteilhabe an der Gesellschaft benötigen. Das ist ein (modernes) Anrecht, kein (feudalistisches) Almosen.

  • 1G
    10236 (Profil gelöscht)

    Bei H4 geht es weniger um die Ausgabendisziplin - schließlich würde das ganze zusätzliche Geld komplett in den Konsum fließen. Es geht vielmehr um die gesellschaftliche und ökonomische Disziplin, wo H4 als Bedrohung, Abschreckung und sozialer Prügelknabe fungieren kann.

    • @10236 (Profil gelöscht):

      Selbst wenn dieses Drohszenario (was schon ein bisschen Aluhut ist in Reinform) wirklich der Hauptgrund wäre für den Weiterbetrieb von H4, was würde sich an diesem Anreiz ändern mit 520 € ? Sanktionen , Vermittlung etc. blieben ja unbesehen davon, und auf 520 ruht sich wohl ca. genau der gleiche Prozentsatz ausruhen wie auf 409 , ist ja nicht so, als wenn diese 111 € pro Monat das ganze zu einem Luxusurlaub machen.

       

      Nebenbei sind das gut 450 Mil pro Monat, also ca. 5,4 Milliarden pro Jahr, ohne Anhebung der Aufstocker, dass gibt der guten Frau Nahles niemand in die Hand.

      • @Krähenauge:

        Es wäre zum Ist-Zustand ein bedeutender Unterschied, wenn Hartz IV nicht nur das Überleben, sondern ein Minimum an gesellschaftlicher Teilhabe sichern würde. Vollkommen unabhängig von irgendwelchen "Drohszenarien" ist Grundvoraussetzung unserer Demokratie, dass niemand aufgrund seiner wirtschaftlichen Verhältnisse gesellschaftlich den Anschluss verliert.

  • Und was sagen AfD-Kandidaten dazu, Hartz IV Leistungen deutlich zu erhöhen?

    Einer von 71 befragten AfD-Kandidaten hat sich tatsächlich eindeutig dafür ausgesprochen und dies auch begründet.

    http://www.wen-waehlen.de/btw13/parteien/antworten/2127/2022/