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Der Quatsch mit den Wurzeln

Literaturfestival Spannende Gedankenanstöße: Beim Abschluss des Internationalen Literaturfestivals diskutierten drei „New German Voices“ Perspektiven auf das Migrantische, auf Identität und Nichtidentität

Durchblick: Auch Autorin Shida Bazyar kratzt an Klischees Foto: Julia Baier

von Jens Uthoff

Die Muttersprache sei so ein Thema, auf das er manchmal angesprochen werde, sagt Senthuran Varatharajah. Seine sei die deutsche, na klar, erzählt er; wenig überraschend bei einem jungen Schriftsteller, der in Oberfranken aufgewachsen ist. „Aber sich die Muttersprache selbst auszusuchen wird einem nicht zugestanden“, so der in Sri Lanka geborene 32-jährige Autor, der aus einer tamilischen Familie stammt und als Kleinkind nach Deutschland kam. Ihm habe mal jemand gesagt, die Muttersprache sei die Sprache, in der man die Kinderlieder singen lerne. Oft werde die Bedeutung des Worts aber in ein Wortfeld mit „Muttermilch“ verlegt; dann sei man bei Blutslinien und -ideologien angelangt.

Die Diskussion, die sich am Freitagabend zwischen dem Autor Varatharajah („Vor der Zunahme der Zeichen“), der ebenfalls lesenden Schriftstellerin Shida Bazyar („Nachts ist es leise in Teheran“) und Moderatorin Theresia Enzensberger im Haus der Berliner Festspiele entfacht, ist hoch spannend. Sowohl Varatharajah als auch Bazyar, die aus einer iranischen Familie stammt, gehören als Einwandererkinder der „zweiten Generation“ an.

Zu Beginn des ilb-Abschlusswochenendes sind jene „New German Voices“ (so hieß das Gesprächsformat, bei dem sie zu Gast waren) sehr präsent, die sich im weitesten Sinne auf Einwanderungserfahrungen beziehen. Zuvor las bereits die diesjährige Klagenfurt-Gewinnerin Sharon Dodua Otoo („Herr Gröttrup setzt sich hin“), eine in London aufgewachsene und in Berlin lebende Tochter aus einer ghanaischen Familie. Am gesamten Abend diskutierte man migrantische Perspektiven und Perspektiven aufs Migrantische, Identität und Nicht­identität, die Wahrnehmung des jeweiligen anderen.

Legt man die Texte der drei Autorinnen und Autoren nebeneinander, scheinen sich zunächst kaum Parallelen zu finden. Otoos Text „Herr Gröttrup setzt sich hin“ ist eine raffinierte kurze Erzählung, die oberflächlich betrachtet mit dem stereotyp Deutschen spielt, bei genauerem Blick aber so viele Lesarten ermöglicht, dass man nach der Lektüre weiß, warum der Text in Klagenfurt prämiert wurde. Bazyars Roman ist ein sprachlich dichtes Werk, das die Geschichte einer Flucht aus dem Iran und ihrer Folgen erzählt. Die erzählte Zeit reicht von der islamischen Revolution 1979 bis ins Heute, ihr Buch weist Züge eines historischen Romans auf. Varatharajahs Text wiederum ist als Facebook-Dialog einer jungen Akademikerin mit einem Akademiker angelegt, die per Zufall online ins Gespräch kommen und sich dann ihre jeweilige Migrationsgeschichte erzählen.

Der Preis der Buchstaben

Über Identität und Identitätszuschreibungen kreisen die Diskussionen im Anschluss an alle drei Lesungen. Varatharajah deutet dabei an, dass Diskriminierung stark mit identitären Denkmustern zu tun habe. Er höre zum Beispiel immer wieder diesen „Quatsch“, ob er nicht das Bedürfnis habe, nach seinen Wurzeln – in Sri Lanka – zu suchen. „Der Begriff der Identität hat gar keine Bedeutung für mich“, sagt er, „und ich finde diese Leerstelle eigentlich ziemlich cool“.

Zuvor, beim Gespräch zwischen Otoo und Moderator Toby Ashraf, konnte man dar­über nachdenken, inwieweit Identitätszuschreibungen immer problematisch sind, egal, aus welcher Perspektive sie getätigt werden. Ashraf und Otoo sprachen über ihren Protagonisten Helmut Gröttrup, den Otoo als eine Figur beschreibt, die mit den unverrückbaren Gewissheiten eines weißen, heterosexuellen Manns durch die Welt geht. So gelungen dieses textliche Experiment auch ist, so richtig sind die Fragen, die er stellt, fiel bei der Debatte doch auf, dass der weiße, heterosexuelle Mann bis heute als etwas völlig Homogenes konstruiert wird. Im Übrigen berücksichtigt man dabei zwar immer die Parameter Race und Gender, aber selten das Kriterium Class.

Was, wie man im Gespräch mit Varatharajah und Bazyar feststellt, nichts daran ändert, dass man sich die Privilegien, die daraus entstehen, weiß und heterosexuell zu sein, genauestens anschauen muss. Zum Beispiel, indem man Sprache analysiert. Wenn weiße Menschen aus dem westlichen Ausland nach Deutschland kämen, bezeichne man sie als Expats, alle anderen hingegen seien Migranten, meint Bazyar. „Und wenn weiße deutsche Abiturientinnen Spracherfahrungen im Ausland sammeln, werden diese als sehr bedeutend beschrieben – das Türkisch, das auf den Schulhöfen gesprochen wird, eher nicht.“

Varatharajah liest dann noch eine Passage aus seinem Buch, in der er die Sprache seziert: „Jeder Buchstabe hat seinen Preis“, lässt er seine Protagonistin Valmira Surroi posten. Der Autor lässt die Figur eindrücklich ihre Erfahrungen mit dem Deutschlernen und mit den Behörden schildern: „Ich wusste nicht, dass Papier und Papiere nicht dasselbe bedeuteten. Ich wusste nicht, dass Papiere nicht der Plural von Papier ist. Ich wusste nicht, dass ein einzelner Buchstabe den Sinn eines ganzen Wortes verändern konnte (…)“, lautet der Eintrag.

Der Abend stand also im Zeichen des Nachdenkens über Sprache; man bekam interessante Gedankenanstöße, bildet sie schließlich am direktesten die Gewissheiten ab, die wir glauben zu haben.

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