: Die Rolle als großer Verweigerer
Theater Frank Castorf auf allen Kanälen: Von innen heraus sowie von Nord, Süd, Ost und West aus widmen sich zwei Publikationen dem Regisseur und seiner Volksbühne in Berlin
von Katrin Bettina Müller
Vom Dienstag an bis zum 14. September gastiert die Volksbühne in Paris mit „Die Brüder Karamasow“. Dabei ist Alexander Scheer, der, wenn das Stück in Berlin gegeben wird, in einer langen Szene vom Dach des Hauses redet. Er erzählt in dem gerade erschienenen Interview-Band „Republik Castorf“ von einem Gastspiel im Pariser Odéon, sechs Vorstellungen hintereinander von „Kean“, einer fünfstündigen Inszenierung. Schon beim vierten Mal können die Schauspieler hinter der Bühne nur noch flüstern und humpeln vor Kraftlosigkeit. Dann steuert Scheer auf den letzten Abend zu: „Wir waren Stadtgespräch. Tout Paris wollte ins Odéon.“ Und: „Wir hatten keine Kraft mehr. Wir sahen unserem Untergang entgegen.“ Aber dann kommt die dramatische Wendung, was auch sonst: „Es passierte etwas, mit dem keiner mehr gerechnet hatte. Wir hoben ab. Aber so was von. Wir legten los und der Saal tobte ab der ersten Szene. Das gab die Kraft. Meine Erschöpfung war vergessen und die Schmerzen auch. Da wurden Reserven aktiviert, die gar nicht mehr da sein konnten!“
Nun ist Alexander Scheer ein Schauspieler, der fast immer wie ein kraftloses Hemd daherkommt und dann eine Energie entfaltet, die aus der Überwindung der eigenen Schwachheit zu kommen scheint. Liest man seine Erinnerung an „Kean“ im Pariser Odéon, hat man ihn gleich vor Augen. Das macht einen großen Reiz der Gespräche aus, die Frank Raddatz mit vielen Schauspielern der Berliner Volksbühne für sein Buch „Republik Castorf“ geführt hat: Ihre Haltungen sind wiedererkennbar, eng verbunden mit den Farben, mit denen sie ihre Bühnenpersonen auszeichnen.
Er steigt aus dem Helikopter
Castorf auf allen Kanälen: Anfang August brachte der Verlag Theater der Zeit sein jährliches Arbeitsbuch heraus, schlicht „Castorf“ betitelt. Neben dem Editorial sieht man Castorf aus einem Helikopter irgendwo in den Kulissen steigen – und die Texte von Künstlern, die in Ost- und West-, Süd- und Nordkapitel gegliedert sind, gelten der internationalen Ausstrahlung des Regisseurs. Ende des Monats erschien „Republik Castorf“ im Alexander Verlag, eine Sammlung von Interviews mit Volksbühnenkünstlern, Schauspielern und Regisseuren vor allem; alle voll der Begeisterung über ihren Chef als großen Ermöglicher. Zuletzt kam Ende August das Jahrbuch von Theater heute mit der jährlichen Kritikerumfrage heraus, aus der die Volksbühne zusammen mit dem Gorki Theater als Theater des Jahres hervorging.
Zu den lustigsten Texten gehört im „Arbeitsbuch Castorf“ die Geschichte des Schauspielers Robert Hunger-Bühler, der sich vor seinem Regisseur im Schornstein eines Schiffs versteckt, gebaut für die Inszenierung von Kafkas „Amerika“ am Theater Zürich. „Ich fühle mich wie ein Gefangener – und Frank ist mein Gefängniswärter.“ Denn keinesfalls will sich der Schauspieler dabei erwischen lassen, dass er heimlich probt, einen Text von Kafka, der vielleicht noch bei der Premiere eingebaut wird; denn er weiß ja, dass sein Regisseur auf das Ungeprobte setzt, den Angstschweiß, den Leerlauf vielleicht, die Ungewissheit, die auch die Schauspieler in Spannung hält. Und nun sitzt Castorf da, an Deck des Schiffs, Hunger-Bühler kann ungesehen nicht an ihm vorbei. Und womöglich ahnt und genießt Castorf dessen In-der-Klemme-Stecken.
Dennoch wiederholt sich auch viel in diesen Aufsätzen und Interviews. Wenn der Bühnenbildner Bert Neumann sagt, das Projekt Volksbühne zeichne sich dadurch aus, „Sachen auszuprobieren, die woanders nicht gehen“, dann wirkt das beim Weiterlesen bald wie ein Refrain. Es tut gut, wenn die Schauspielerin Sophie Rois die Behauptung, es immer anders zu machen als andere Theater, auch mal in eine verblüffende Richtung ausmalt: „Ich würde nicht sagen, dass wir an der Volksbühne modern sind. Wir sind viel traditionalistischer und gehen hinter das 19. Jahrhundert zurück, hinter die Verheerungen, die das 19. Jahrhundert durch die Psychologisierung des Theaters und die Behauptung der vierten Wand angerichtet hat. Damit hat die Volksbühne nicht das Geringste zu tun. Diese Vorabendserien-Empfindlichkeit kommt hier nicht vor. Aber es gibt einen unbedingten Willen zur Unterhaltung.“
So gut sich die einzelnen Interviews von Frank Raddatz auch lesen, so breit gefächert das Spektrum der Stimmen im „Arbeitsbuch Castorf“ ist: Etwas sehr hagiografisch sind beide Publikationen, die sich vor allem mit dem Regisseur Castorf und weniger mit dem Intendanten beschäftigen. Das liegt auch daran, dass sie sich als Verteidigungsschriften einer Kunstform begreifen, deren Ende sie mit dem Ende der Intendanz von Castorf kommen sehen. Die Bücher wollen Material liefern, die Einmaligkeit der Volksbühne von Frank Castorf zu beweisen. Das gelingt ihnen aber gerade durch die Fülle des Lobs und die vielen Innenansichten nicht so überzeugend.
Es fehlen Reibung und Analyse der so oft beschworenen Textarbeit von Castorf. Raddatz betont wieder und wieder, kein anderes Theater arbeite dermaßen in historischen Horizonten und sei so kenntnisreich in der Geschichte zu Hause. Doch beides hätte ein Nachfragen verdient, denn erstens schauen auch viele andere Theater in die Geschichte und zweitens gibt Castorfs historischer Anspielungsreichtum ohne ähnlich großes Wissen oft viele Rätsel auf. Es ist oft mehr ein schillerndes Ausstellen des Zuhauseseins in historischen Horizonten als deren Vermittlung oder Aufschlüsselung.
Penetrante Wiederholung
Ist alles, was schwer zu verstehen ist, ein Schatz des Inkommensurablen? Oder vielleicht auch einfach überfrachtet? Etwas zu sehr glorifiziert Raddatz die Rolle der Volksbühne als großer Verweigerer auf dem Markt der Kultur, etwas penetrant wiederholt sich Marketing-Ferne in den Selbstbildern der Künstler. Sich Trends nicht anzupassen, war und ist zwar ein wichtiger Impuls für viele Künstler, Autoren, Regisseure am Haus, wie Bert Neumann, Vegard Vinge, René Pollesch. Dennoch leben gerade die Arbeiten der Volksbühnen-Regisseure Pollesch, Herbert Fritsch oder Christoph Marthaler sehr von der Wiedererkennbarkeit ihrer Handschriften und sind gut gehende Marken am Haus, die sich auch wiederholen dürfen. Sie haben wie andere Genres der Popkultur ihre großen Fangruppen, die auch nachsichtig sind, wenn vieles wiederkehrt. Das ständig als Opposition zu dem Kulturmarkt zu behaupten, den die Buchmacher mit dem kommenden Leiter Chris Dercon heraufkommen sehen, ist etwas übertrieben.
Frank Castorf selbst ist da übrigens, das kann man auch in beiden Büchern sehen, etwas klüger und weitblickender. Für den Erhalt seiner Volksbühne lässt er andere streiten. Und blickt selbst über das eigene Haus hinaus: „Eine bürgerliche Institution wie das Theater wird auf jeden Fall verschwinden. Bei Müller sind es die Steine und die Landschaften, die weiterexistieren.“ Und deshalb galt für seine Arbeit schon lange: „Das Wissen um die Vergeblichkeit darf man nicht verlieren.“ Und das ist dann gar nicht mehr lustig.
„Republik Castorf“. Hrsg. von Frank Raddatz, Alexander Verlag, Berlin 2016, 350 S., 18 Euro
„Arbeitsbuch Castorf“, Verlag Theater der Zeit, Berlin 2016, 184 S., 24,50 Euro
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