: „Informationen erzeugen Handlungsdruck“
ARMUT Die sogenannte Strategie der Landesregierung gegen Kinderarmut beschreibe nur, statt Ziele zu setzen, kritisiert Barbara König, Geschäftsführerin des AWO-Landesverbands Berlin. Vom Senat fordert sie, das Problem endlich umfassend anzugehen
Interview Susanne Memarnia
taz: Frau König, der Senat hat gerade eine Strategie zur Bekämpfung von Kinderarmut vorgelegt. Wie gut ist die?
Barbara König: Sie ist unzureichend, da rein beschreibend. Sie enthält keine klaren Ziele oder Handlungsempfehlungen. In einer Vorversion – wir sind ja als AWO mit anderen Akteuren an der Entwicklung der Strategie beteiligt gewesen – waren immerhin noch Zielsetzungen drin. Auch die waren uns zwar viel zu unkonkret: Zum Beispiel war ein Ziel, die Arbeitslosigkeit von Eltern zu senken, aber es wurden dazu keine Zahlen genannt. Aber in der neuen Version bleibt alles im Ungefähren. Das ist zwei Wochen vor einer Wahl nicht überraschend. Aber nach zwei, drei Jahren Diskussion ist das trotzdem zu wenig.
Was könnten konkrete Ziele sein?
Etwa die Zahl von Kindern im Hartz-IV-Bezug in einem Zeitraum X um soundso viel Prozent zu senken. Oder die Zahl der Schulkinder, deren Eltern von der Zuzahlung zu Lernmitteln befreit sind. Da wären klare Indikatoren. Aber es ist natürlich eine politische Entscheidung, wie konkret man sich festlegen will. Politiker wollen sich damit nicht unter Zugzwang bringen. Aber uns als Verbänden geht es natürlich um Veränderungen.
Haben Sie noch andere Beispiele für konkrete Ziele?
Im Bereich Gesundheit wäre ein konkretes Ziel, die Zahl der Kariesfälle bei der Schuleingangsuntersuchung um soundso viel bis zum Zeitpunkt X zu senken. Es ist leider erwiesen, dass Kinder aus ärmeren Familien schlechtere Zähne und insgesamt eine schlechtere Gesundheit und sich zum Teil motorisch langsamer entwickeln.
Warum ist das so?
Das ist eine Frage von Bildung, aber auch von Fakten, die sich aus der Armut ergeben. Ärmere Kinder haben mehr Verkehrsunfälle, weil sie in Vierteln leben, die verkehrsreicher sind, die an Hauptstraßen und Verkehrsachsen liegen. Da ist das Unfallrisiko höher als in der Einfamilienhaussiedlung. Und oft ist das Wissen um gesunde Ernährung in ärmeren Familien nicht vorhanden. Das ist keine Frage von Erziehungskompetenz oder Dummheit, sondern von informeller Bildung und niedrigschwelligen Angeboten.
Genau dafür gibt es doch die Familienzentren!
Ja, aber zu wenige und oft nicht dort, wo sie gebraucht werden. Wir fordern, dass die Familienzentren massiv ausgeweitet werden, dass sich Kitas weiter entwickeln zu solchen Zentren, wo Elternbildung stattfindet. Die Senatsbildungsverwaltung wollte da selber schon weiter sein. Es sollten inzwischen 48 sein, bislang gibt es berlinweit erst 31. Vor allem in Kiezen mit einem hohen Anteil an ärmeren Familien müssen solche Zentren mit niedrigschwelligen Angeboten für Eltern eingerichtet werden. Und die müssen vernetzt sein mit Schuldner- und anderen Beratungen.
Auch solche Beratungsangebote gibt es zuhauf.
Ja, aber sie sind nicht vernetzt genug. Sie sind nicht dort, wo die Menschen leben, die solche Hilfen brauchen. Und sie haben häufig noch zu hohe Hürden. Natürlich gibt es Bildungsstätten, wo man Kurse belegen kann über richtige Ernährung und Ähnliches, aber das nehmen vor allem Mittelschichtsfamilien wahr. Wenn wir Armut und ihre Folgen bekämpfen wollen, müssen wir dahin gehen, wo wir die armen Menschen erreichen – und das ist in den Kitas. Die AWO-Kitas etwa sind teilweise zu solchen Familienzentren ausgebaut: Unsere ErzieherInnen sind sensibilisiert. Sie wissen, wann ein Kind Hilfe braucht und wo es sie bekommen kann.
Ist es nicht verständlich, dass Politiker nicht versprechen wollen, den Anteil von Hartz-IV-Familien um soundso viel Prozentpunkte zu senken – schließlich sind ihre Möglichkeiten, Jobs zu schaffen, sehr begrenzt?
Politik kann keine Arbeitsplätze backen. Aber sie kann die Vereinbarkeit von Familie und Beruf und so Alleinerziehenden und Eltern kleiner Kinder die Arbeitsaufnahme erleichtern. Armutsbekämpfung ist natürlich immer auch Bundespolitik, wo die Landesregierung nicht viel versprechen kann: etwa bei den Hartz-IV-Regelsätzen, die nach unserer Ansicht nicht reichen. Wir fordern eine bedarfsdeckende Grundsicherung für jedes Kind, unabhängig von Status und Geld der Eltern – die über das Einkommen der Eltern versteuert werden sollte. Bei der Kindergrundsicherung soll es nicht so sein wie bei steuerlichen Kinderfreibeträgen, dass man mehr vom Staat bekommt, je mehr man verdient.
Bei solchen Vorschlägen kommt gern der Vorwurf, das Geld vom Staat würden arme Eltern doch nur versaufen oder für den Flachbildschirm ausgeben. Was sagen Sie dazu?
Es gibt einige wenige Studien über arme Eltern – und keine kommt zu dem Ergebnis, dass das Geld zuerst für Flachbildschirme ausgegeben wird, sondern immer zunächst für Lebensmittel, Kleidung, Sportangebote, und erst am Schluss kommen die Eltern selbst. Dieses Bild stimmt also nicht, das ist widerlegt. Natürlich mag es solche Eltern in Berlin geben. Aber auf das Kindeswohl achtet natürlich auch der Staat durch das Jugendamt oder hier in Berlin das Netzwerk Kinderschutz.
Die 47-jährige Politikwissenschaftlerin ist seit Januar 2016 Geschäftsführerin des Berliner Landesverbandes der Arbeiterwohlfahrt AWO.
Diese jetzt beschlossene Strategie des Senats, die Sie kritisieren, wurde in der Presse oft als „Armutsbericht“ bezeichnet. Akteure wie AWO oder Landesarmutskonferenz fordern einen solchen seit Jahren – aber die Politik weigert sich. Was ist das Problem?
Es gibt einzelne statistische Quellen, etwa den Sozialstrukturatlas und andere Einzelberichte aus den verschiedenen Ressorts. Aber diese Daten werden nicht miteinander verknüpft – für eine umfassende Strategie gegen Armut wäre das eine wichtige Grundlage. Der Bund macht das ja inzwischen, auch dort hat man sich lange geweigert. Aber seit zehn Jahren gibt es den Armuts- und Reichtumsbericht der Bundesregierung. Auch andere Bundesländer, teilweise sogar Städte, haben so etwas.
Was wären das für Daten, die da zusammengefügt werden?
Sie müssten aus den verschiedensten Lebenslagen der Menschen kommen. Viele Zahlen sind schon vorhanden, etwa zu Erwerbstätigkeit und Arbeitslosigkeit, zu Bildungswegen, wie viele Jugendliche welcher Herkunft gehen aufs Gymnasium und so weiter, bei Gesundheit etwa die Ergebnisse der Einschulungsuntersuchungen. Manches fehlt aber auch: So fordern AWO und andere seit Jahren eine aussagefähige Statistik zu Wohnungslosigkeit. Da haben wir nur grobe Schätzungen. Dabei gibt es in Berlin auch Frauen und Familien, die von Zwangsräumung und Wohnungslosigkeit bedroht sind.
Warum wehrt sich die Politik in Berlin gegen einen solchen Bericht?
Es gibt immer noch ein starkes Schubladendenken in den einzelnen Ressorts der Verwaltungen – und ein solcher Armutsbericht müsste natürlich ressortübergreifend sein, ebenso wie die Strategie, die daraus folgt. Das Leben eines Kindes findet ja nicht in Schubladen wie Bildung, Gesundheit, Wohnungsbau statt: Es ist ein Gesamtkomplex, den man zusammen anschauen muss. Manche sagen, die Politik will einen solchen Bericht nicht, weil sie es gar nicht so genau wissen will mit der Armut. Aber das würde ich so pauschal nicht für die gesamte politische Landschaft sagen. Es könnte aber sein, dass die Politik auch gesehen hat, was passiert, wenn man den Blick schärft: Im Bereich Kinderschutz hat man das ja gemacht, man hat die Instrumente verfeinert, sensibler und flächendeckender hingeschaut – und hat dann schnell auch mehr Fälle gehabt und mehr Handlungsdruck.
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