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Lust und Waffenruhe

ILB Zur Eröffnung des Internationalen Literatur-festivals spricht César Aira über seine Poetik

Nach Festivaleröffnungen teilt sich das Publikum für gewöhnlich in zwei Gruppen. Die einen eilen in Richtung der U-Bahn-Schächte davon; einige wenige verweilen mit glänzenden Augen. Es sind diejenigen, die den Eventcharakter eines Festivals auskosten wollen. Mit den Autoren auf Tuchfühlung gehen: Autogramme, Widmungen, Selfies.

Das Internationale Literaturfestival Berlin (ilb) hat von Beginn an diesen Moment kultiviert und ein Autorenzelt zu seinem Markenzeichen gemacht, in das nicht nur geladene Gäste gelassen werden. Dieses Jahr steht es, etwas versteckt, nicht im Garten der Berliner Festspiele, sondern auf dem Parkplatz im Schatten der Bar jeder Vernunft.

Auf dem Rasen hinter dem Zelt sitzt an einem Tischchen César Aira. Vor einer Stunde hat der argentinische Autor eine starke Rede zur Eröffnung der 16. Ausgabe des ilb gehalten. Wohl jetlagbedingt blickt er jetzt ein wenig entrückt auf eine Backsteinmauer. Aira atmet durch; eine längere Lesereise wird ihn in den nächsten Tagen erst durch Deutschland, dann bis nach Oslo führen.

„Einer der Journalisten“, erzählt er nun, „hat mich nach dem Festivalmottto ‚Demokratie ohne Populismus‘ gefragt; ich habe das Gespräch beendet und gesagt: ‚Ich rede weder über Politik noch über Fußball.‘“ Ausgerechnet er – der in seiner Heimat trotz der turbulenten politischen Verhältnisse ganz und gar nicht dem Bild eines engagierten Schriftstellers entspricht – wurde eingeladen, ein Festival zu eröffnen, das sich nach den Worten des Intendanten der Berliner Festspiele, Thomas Oberender, „seit Jahren dezidiert politisch“ gibt.

Was das meint, wird klar, als Ulrich Schreiber, der Festivalleiter, einzelne Programmpunkte bei der Eröffnung vorstellt. Gedichte von jungen Geflüchteten werden ausgestellt, die Verfolgung der Presse in der Türkei wird thematisiert, der jüngste Wahlerfolg der AfD in Mecklenburg-Vorpommern wird analysiert, es wird über Korruption gesprochen. César Aira betritt nach ihm die Bühne, keiner hat ihn über die klimatischen Bedingungen aufgeklärt, es ist spätsommerlich warm, Aira steckt in einer Jacke. Vielleicht ist diese nicht jahreszeitliche Kleidung ein ganz gutes Bild dafür, dass sich da jemand nicht anpassen möchte.

Entgegen der Erwartung, die gerade an Schriftsteller aus der südlichen Hemisphäre gestellt wird, sich politisch zu positionieren, über die Gesellschaft und die Probleme im Land zu sprechen, spricht Aira nur über das, was ihn selbst interessiert: die Literatur. Es ist eine klare Position, die er bezieht. Er redet von der Kindheit und den Geheimnissen, die Kinder sich bewahrten. Heute gäben wir ihnen (digitale) Werkzeuge, um alle Fragen rasch zu klären, beklagt er.

Für Aira selbst gab es noch viele Mysterien in Coronel ­Pringles, in einer Kleinstadt, 500 Kilometer südwestlich von Buenos Aires mit einer alten Bahnstation. Aira ist zu verdanken, dass uns an diesem Abend die unmittelbare Funktion der Literatur verdeutlicht wird. Seine Kernthese: Die Literatur habe keine andere Rechtfertigung gegenüber der Gesellschaft als die, Freude und Bewunderung hervorzurufen. Und deshalb müsse sie gut geschrieben sein, eigentlich müsse sie „besser“ geschrieben sein, wie er später erklärt, weil das „gut geschrieben“ das Erwartbare sei und nur „das Bessere“, das Unerwartbare und Irritierende, das sei, was ihn selbst als Autor interessiert.

In wenigen Sätzen skizziert er seine Poetik, die sich vor allem aus seinen Lektüren und Relektüren speist: Als jugendlicher Leser verschlang er sowohl die Bücher der Avantgarde als auch Piratengeschichten und Krimis. Aira verteidigt die Literatur gegen all jene, die sie für andere Zwecke vereinnahmen wollen. Die Literatur, sagt er, ist so etwas wie eine Pause, ein Waffenstillstand in unserem Erwachsenenleben, das so sehr von der Lösung von Problemen geprägt sei. Ein Moment der Lust. Des Durchatmens. Des Abschweifens. Möge man noch viel abschweifen können in den kommenden Tagen am Haus der Berliner Festspiele. Timo Berger

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