Eine Anwältin in Neukölln: Wer laut wird, fliegt raus
Über 1.000 Mandanten betreut Marlies Suhrenkamp in Berlin-Neukölln. Sie weiß sich Respekt zu verschaffen und nimmt alles mit Humor.
Heute wohnt Marlies Suhrenkamp, einmal verwitwet, einmal geschieden, wieder in der Nähe ihres einstigen Elternhauses. Als Fußballfan hat sie auf ihrem Balkon dauerhaft eine Deutschlandfahne verankert. Der Weg in ihre Kanzlei führt auf die andere Seite des Hermannplatzes, wo im Schnäppchenmarkt noch ein paar schwarz-rot-goldene Fahnen übrig sind, die Hermannstraße hinauf in eine mit jedem Schritt muslimischer werdende Welt.
Hier, in der Hermannstraße 11, eröffnete sie im Jahr 2003 ihr Büro, allein mit einem Faxgerät und einem geerbten Aktenschrank. Doch sie hatte einen guten Nachbarn: den türkischen Inhaber eines KfZ-Sachverständigenbüros. Er hatte sie auf das leer stehende Geschäftslokal aufmerksam gemacht und auf eine Marktlücke im Kiez: Wem das Auto demoliert wurde, der braucht erst mal eine Expertise – und danach meist einen Anwalt. Heute beschäftigt Suhrenkamp drei AnwaltskollegInnen und fünf Rechtsanwaltfachangestellte. Sie hat keine Schwierigkeiten, Aufgaben zu delegieren: „Ich habe im Leben schon sehr viel mehr für sehr viel weniger Geld gearbeitet.“
Für alle in der Kanzlei gilt gleitende Arbeitszeit, sie selbst beginnt heute um zehn. Neben einem schweren Metallaschenbecher auf ihrem Schreibtisch – sie ist bekennende Raucherin – materialisieren sich die Deutschlandfarben erneut: in einem Wimpel, dazu – bei Fußballgroßereignissen – auf Fingernägeln und Armband der Chefin.
Hier gilt „Vattern fährt“
„Mit Nationalismus hat das nichts zu tun“, versichert sie. Nicht zuletzt der vielen Ausländer wegen fühlt sie sich in Neukölln „absolut zu Hause“. 80 Prozent ihrer Mandanten sind Araber und Türken, davon wiederum 85 Prozent Männer. Hier gilt noch „Vattern fährt“, sagt sie und fügt hinzu: „Also von mir aus können die Leute kariert aussehen, und sie dürfen denken, was sie wollen – nur benehmen müssen sie sich. Wer laut wird, fliegt raus.“ Wenn es mit der sprachlichen Verständigung hapert, helfen ihr türkischer Nachbar und dessen Angestellte.
Und was unterscheidet muslimische Mandanten von deutschen? Sie überlegt: „Mit wenigen Ausnahmen fühlen sie sich nie schuldig. Wenn man beweist: Guck mal, vor dem Schild da hättest du gar nicht stehen dürfen! Dann kommt in der Regel eine Antwort wie: Na, soll ich mein Auto denn mit raufnehmen?“
In ihrem früheren Leben war Marlies Suhrenkamp Krankenschwester für Anästhesie und Intensivmedizin. Manchmal fragt sie sich: „Habe ich ein Helfersyndrom?“ Wer sie aber kennt, weiß mit Sicherheit eines: Das wichtigste Merkmal dieser Frau ist ihr Erzähltalent. Mit jeder ihrer Antworten schildert sie eine Theaterszene, und das Leben drinnen wie draußen hält genug Stoff für sie bereit.
Ein Schlüsselerlebnis hatte sie kurz nach ihrer Praxisgründung: „Da tritt ein möglicher Mandant ein, ich streckte ihm freundlich die Hand entgegen, und er erklärt: Ich gebe ihnen nicht die Hand, sie sind – sagt er abschätzig – eine Frau!“ Er flog erst mal raus, kam aber fünf Minuten später wieder und erklärte: „Das hab ich doch nicht so gemeint.“ Bloß lasse ihm sein Glaube keine Wahl.
Vor allem Verkehrsdelikte
Von Neuköllns Negativimage hat sich die Anwältin nie beeindrucken lassen. Bei heute 328.000 Einwohnern wurden zuletzt 41,1 Prozent Personen mit Migrationshintergrund gezählt. Dies schafft – zusammen mit der sozial schwachen Situation vieler Deutscher – Probleme im Bildungssektor. Die Arbeitslosenquote ist mit 17,1 Prozent die höchste in Berlin. Mit den berühmten Neuköllner Bandenkriegen hat Suhrenkamp allerdings kaum zu tun gehabt; nur einmal litt das Auto eines Mandanten, weil es bei einer der Verfolgungsjagden im Weg stand. Suhrenkamps Geschäft sind Straf- und Verkehrsrecht, im Verhältnis 20 zu 80.
Manchmal rempeln Jugendliche auf der Straße die Anwältin an. „Wenn so einer zischt: ‚Ich fick deine Mutter!‘, antworte ich: ‚Okay, ich sag ihr Bescheid.‘ Diese Kids sind ja nicht so geboren.“ In Hamburg war Suhrenkamp selbst ein Schlüsselkind und tat, was sie wollte. Mit 16 erklärte sie: „Mein Leben gehört mir!“, und ging vom Gymnasium ab.
Aber nach vierzehn Jahren Dienst auf der Intensivstation in der Universitätsklinik Hamburg-Eppendorf sehnte sie sich doch nach einem Abitur und meldete sich bei der Abendschule an. Drei Jahre später nahm Suhrenkamp das Jurastudium auf.
Von der Treuhand zur eigenen Kanzlei
Sofort nach dem Zweiten Staatsexamen, 1992, zog sie zurück nach Berlin. Damals suchte die Treuhand Liegenschaftsgesellschaft JuristInnen zur Verwertung einstiger DDR-Immobilien. Ein Jahrzehnt später eröffnete sie ihre Kanzlei. Heute ist Suhrenkamp vor allem auf ihren großen Konferenzraum stolz. Mit gelben Tapeten und cremefarbenen Ledersesseln brachte sie hier Sonne ins Souterrain. Mit geradem, aber nicht steifem Rücken gleitet sie durch ihre Hallen, bei einer Körpergröße zwischen Edith Piaf und eins sechzig machen sich da ihre hugenottischen Vorfahrinnen bemerkbar. Hier betreut sie insgesamt 1.400 Mandanten. „Die kommen immer wieder“, lacht sie. „Weil ich ihnen ehrlich erzähle, was sie finanziell erwartet und wie lange das dauern kann.“
Dass auch Suhrenkamp bisweilen unter Stress leidet, dafür macht sie ihre Geschäftspost verantwortlich – die äußerst unregelmäßig eintrudelt. Ein Brief an das einzige für Verkehrssachen zuständige Amtsgericht in Berlin, nahe dem Alexanderplatz, kam einmal sogar mit dem Vermerk zurück: Empfänger unbekannt verzogen.
Das Gebäude aus der Gründerzeit steht noch immer und umfasst einen ganzen Häuserblock. In unregelmäßigen Abständen fährt die Anwältin mit der U-Bahn hierher, verschwindet im ornamentreichen Tor und vertritt ihre Mandanten vor den RichterInnen. Erst nach bis zu zwei Jahren gibt es einen Verkündigungstermin. Und der sieht dann so aus, erzählt Suhrenkamp:
„Da steht der Richter in der Regel allein da. Er erhebt sich wirklich und sagt vor dem leeren Saal in dem angeblich unbekannt verzogenen Gebäude: Im Namen des Volkes! – Das muss der so machen. Und dann krieg ich das Urteil schriftlich zugestellt.“
Ein großes Erzähltalent
Marlies Suhrenkamp erzählt nicht nur bühnenreif, sie ist außerdem privat die Zweite Vorsitzende des Theaters im Keller, einer Travestiebühne, die ihr Hauseigentümer und dessen Ehemann betreiben. Außerdem ist sie seit 1972 Mitglied der SPD. Und was hält sie von Neuköllns legendärem SPD-Bürgermeister Heinz Buschkowsky, der bis 2015 den Bezirk regierte?
Buschkowsky eckte mit vielen Äußerungen an. Als der türkische Ministerpräsident Erdoğan die in Deutschland lebenden Türken aufforderte, Goethe zu lesen, kommentierte Buschkowsky: „Bevor sich unsere Eleven an Kant und Hegel machen, beginnen wir erst einmal mit der Sprache, dem Kindergarten und dem Einmaleins.“
Auch Suhrenkamp konstatiert bei ihren türkischen Nachbarn „katastrophale Deutschkenntnisse“ und sagt: „Wenn Herr Erdoğan sich immer wieder über deutsche Menschen äußern kann, so kann das der Bezirksbürgermeister von Neukölln auch über die türkischen Menschen, mit denen er hier zu tun hat.“ Sie meint: „Deutschland hat den Integrationszug in den 70er und 80er Jahren abfahren lassen.“ Gerade die türkischen Gastarbeiter habe man nur als billige Arbeitskräfte benutzt, ohne sich um sie zu kümmern.
Gehäkeltes Trallala
Ein Anzeichen für die Entwicklung zweier Parallelgesellschaften sieht sie auch in der zunehmenden Verschleierung muslimischer Frauen. In Neukölln täglich zu beobachten: „Ich war in der Bank am Kottbusser Damm“, erzählt sie. „Die Automaten stehen da seitlich zur Glastür und sind zur Straße mit einer Glasfront abgeschirmt. Neben mir steht eine in’ner richtigen Burka mit nur so ’nem gehäkelten Trallala vor den Augen. Ich wusste, was kommt: Die nimmt ihre Scheine, dreht sich um und rennt natürlich voll gegen diese Glaswand. Sie dachte, da geht’s raus, weil sie die seitliche Tür gar nicht mehr im Blickwinkel hatte. Nächstes Mal ist da keine Glaswand, sondern es kommt was gefahren.“
Viele Dinge regelt die Anwältin per Schriftverkehr oder Telefonate. Nur um besonders komplizierte Sachverhalte erzählerisch zu veranschaulichen, lädt sie Leute zu sich. Andere kommen von selbst. Manche davon vergisst sie nie:
„Da kam ein Typ hier rein, in einem weißen nachthemdähnlichen Gewand, Pluderhosen, Jesuslatschen und mit’nem Stab in der Hand. Ich Blödmännin hätte ja den Mund halten sollen. Stattdessen sagte ich: Sie sehn ja interessant aus! Wie sich herausstellte, wollte er die Wanderungen von Mohammed nachvollziehen. Und ich meinte noch: Oh, ich wusste gar nicht, dass Mohammed auch durch Berlin gekommen ist. Er antwortete: Ich fang eben da an, wo ich lebe.
Dieser Mann war nicht gekränkt, sondern ließ sich schließlich von ihr vertreten. Genauso wie jener, der ihr immer noch nicht die Hand geben will, aber dies jetzt diplomatisch vermittelt. Er ist ihr Mandant bis heute.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Grundsatzpapier von Christian Lindner
Eine gefährliche Attacke
Geschlechtsidentität im Gesetz
Esoterische Vorstellung
Nach Diphtherie-Fall in Berlin
Das Problem der „Anthroposophischen Medizin“
Jüdische Wähler in den USA
Zwischen Pech und Kamala
Felix Banaszak über das Linkssein
„Für solche plumpen Spiele fehlt mir die Langeweile“
Alkoholpreise in Deutschland
Das Geschäft mit dem Tod