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„Hauptsache, es tut sich was“

„Die Koalition wird auf sehr schwachen Füßen stehen, und der Widerstand von unten wächst“

VON HEIKE HAARHOFF, HEIDE PLATEN UND PASCAL BEUCKER

Berlin – Auf dem Gelände der Siemens AG in Berlin-Spandau treffen sich an diesem Dienstag mehrere hundert Mitglieder des Bundesverbands mittelständische Wirtschaft (BVMW) zu ihrem „Ersten Innovationsforum Mittelstand“. Es ist Zufall, dass das Forum ausgerechnet auf den Tag fällt, an dem das Nachdenken über die Konsequenzen einer großen Koalition beginnt, aber ungelegen kommt den Mittelständlern diese Terminierung nicht. Dem Verbandspräsidenten Mario Ohoven bietet sie eine gute Gelegenheit, seinem Ärger über den aus seiner Sicht widrigen Wahlausgang Luft zu machen, und das auch noch vor einer großen Öffentlichkeit. Denn natürlich wollen die Anwesenden wissen, was der Mittelstand – die Innovationskraft schlechthin, glaubt man den Lobpreisungen Ohovens – zu sagen hat über das Bündnis aus Union und SPD, das vermutlich in wenigen Wochen das Land regieren wird.

Also rückt Mario Ohoven mit großer Geste seine goldene Brille zurecht und sagt dann: „Ich bin skeptisch.“ Das klingt ziemlich beleidigt, aber dann wettert er los: „Ich will kein Blatt vor den Mund nehmen, der Mittelstand hätte sich eine andere Konstellation erwartet, ich fürchte jetzt, dass sich die Koalitionäre immer nur auf den kleinsten gemeinsamen Nenner einigen werden.“ Und dann auch noch die Ressorts Arbeit, Gesundheit, Finanzen in der Hand der SPD. Welche großen Reformen, fragt er, sollten denn da, bitte schön, auf den Weg gebracht werden? Weniger Bürokratie und mehr unternehmerische Freiheit und Eigenverantwortlichkeit, das sei es, was der Mittelstand fordere. Er winkt ab, nein, er hat zwar hohe Erwartungen, aber keine großen Hoffnungen in diese neue Regierung.

Hoffnungen ganz anderer Art regen sich an diesem Morgen im Landgericht Berlin. Dort beginnt ein Prozess gegen zwei Männer und eine Frau. Sie sollen in einer leer stehenden Wohnung in Schöneberg Cannabis gezüchtet und das Marihuana verkauft haben. Die Staatsanwaltschaft spricht von „der Plantagenwohnung“ und hat dort unter anderem 212 Stecklinge von zehn bis dreißig Zentimetern gezählt sowie 534,115 Gramm „Stengelmaterial“ gewogen.

Hubert Dreiling steht gestikulierend am Eingang zum Gerichtssaal, groß, dunkelhaarig, schwer, er ist einer der Verteidiger und macht sich nicht die Mühe zu verbergen, was er von der Sache hält: „Lächerlich ist das“, dröhnt er. „Es geht um die harmloseste Variante von Cannabis“, er wedelt mit der Hand durch die Luft, so als ließen sich die paar Gramm Unrecht so in nichts auflösen. „Seit Jahren kämpfe ich für die Liberalisierung“, sagt er und fügt wie zum Beweis hinzu, dass er weiß, wovon er spricht: „Ich bin 68er, wir haben so viel gekifft, das passt gar nicht in einen Gerichtssaal.“

Die Politik müsse und werde sich endlich bewegen, da ist sich Dreiling ganz sicher. Auch wenn die neue Regierung von den Konservativen angeführt werden wird? Hubert Dreiling legt die Stirn in Falten, er sieht jetzt wirklich böse aus. „Wenn die irgendwas verschärfen, dann würde ich persönlich in die CDU-Zentrale rennen und die Kasner“ – er nennt Angela Merkel bei ihrem Mädchennamen – „würgen“, knurrt er. Vorstellen kann er sich allerdings nicht, dass das nötig sein wird. „Auch eine von der CDU geführte große Koalition kann nicht hinter den Stand der Wissenschaft zurück.“ Dann ruft der Gerichtsdiener die Verhandlung auf, und Hubert Dreiling geht hoffnungsfroh verteidigen.

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Köln – Daniel Becker sitzt in der blechernen Bude der Dombau-Lotterie. „Die große Koalition wird bestimmt sehr interessant“, sagt der Geografiestudent, der sich hier etwas dazuverdient. Er sei ein „SPD-Wähler, schon seit ich darf“, bekennt der 22-Jährige. Auch wenn eine Kanzlerin Merkel für ihn daher nicht das große Los ist, hält er das neue schwarz-rote Bündnis insgesamt für keine schlechte Lösung: „Das ist wohl die einzig mögliche Variante und das wird bestimmt nicht unproduktiv“, meint er. „Die kommenden Jahre werden schon erträglich werden.“

Nur wenige Meter von Becker entfernt kniet Martin Beusing auf dem Pflaster. Mit Kreide malt er Bartolomé Estéban Murillos „Der gute Hirte“ auf die Domplatte. „Soll die Merkel mal zeigen, was sie draufhat“, meint Beusing. „Hauptsache, es tut sich irgendwas und es geht erst mal weiter.“ Nein, eine Verbesserung seiner Situation verspricht er sich nicht von der neuen Regierung, sagt der 40-Jährige, der seit einer abgebrochenen Lehre erwerbslos ist. „Ich hoffe nur, dass die nicht noch härtere Maßnahmen gegen Arbeitslose ergreifen.“

„Ich hoffe, dass jetzt endlich mehr für die Rentner getan wird“, sagt Agnes Reimer. „Bisher wurden wir ja nur abgezogen“, so die 64-Jährige, die seit vier Jahren in Rente ist. Merkel sei eine gute Wahl: „Der Schröder war mir einfach etwas zu großmäulig.“ Dann zieht es die Frau in der roten Strickjacke in den Dom. Sie ist eine von unzähligen Menschen, vorwiegend Touristen, die es an diesem sonnigen Dienstag in die Kathedrale zieht. Viele Familien mit Kindern sind darunter. Es sind Herbstferien. Auf die neue Berliner Farbenlehre angesprochen, reagieren viele gleichgültig. „Ich weiß nicht, wie das weitergeht“, bemerkt ein älterer Mann aus dem Oberbergischen lakonisch. Er wartet vor dem Dom auf seine Frau und seine Kinder. Nein, mehr könne er zu der großen Koalition nicht sagen.

Direkt vor dem Haupteingang zum Dom steht ein junger Mann mit einem schwarzen Käppi. Freundlich spricht er die Menschen an, die an ihm vorbei in den Dom strömen. Doch nur wenige werfen eine Münze in den Pappbecher, den er in seiner Hand hält. Seit fünf Jahren ist er inzwischen erwerbs-, seit zwei Jahren obdachlos. „Was ich mir von der neuen Regierung erhoffe?“ Der 35-Jährige schaut etwas ungläubig. „Na ja, dass endlich was für die Armen getan wird, nicht nur für die Reichen“, antwortet er schließlich. „Aber ich glaub nicht dran.“ Unweit von ihm spielt ein Rastafari auf seiner Gitarre Reggae und singt: „Don’t cry.“

Vor dem Domforum gegenüber sitzt etwas windgeschützt in einer Nische Walter Herrmann. „Jetzt bietet sich die Möglichkeit, von der Basis aus mehr Druck zu machen“, ist der 66-Jährige hoffnungsfroh. „Das ist eine einmalige Chance, wieder etwas zu bewegen: Die Koalition wird auf sehr schwachen Füßen stehen, und der Widerstand von unten wächst.“ Herrmann ist Initiator der Kölner Klagemauer. Dafür erhielt er 1998 den Aachener Friedenspreis. Seine Klagemauer wird im kommenden Jahr ihren fünfzehnten Geburtstag feiern, bemerkt der Friedensaktivist stolz. Er kann sich noch gut an die letzte große Koalition in den 60-er Jahren erinnern. Auch wenn es wohl diesmal nicht eine derartig breite außerparlamentarische Oppositionsbewegung geben werde, so ist Herrmann doch überzeugt: „Aber in diese Richtung wird es gehen.“

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Frankfurt/Main – Die Erde hat nicht gerade gebebt vor der Frankfurter Börse, weder gestern Morgen noch am Tag zuvor. Bulle und Bär stehen genauso klotzig, blechern und hohl wie immer auf dem Vorplatz des Gründerzeitbaus. Sie haben sich genauso wenig gerührt wie der DAX, der um bescheidene 17 Punkte geklettert ist. Die Banker eilen zu ihrem Arbeitsplatz ins Parkett wie jeden Tag. Sie sind unschwer auszumachen, Anzug, Handy am Ohr und ein ganz besonders eiliger Schritt. Was versprechen sie sich von der neuen Bundeskanzlerin Merkel? Nicht viel, sagen sie fast unisono.

Zwei nehmen sich ein paar Minuten Zeit: „Wir werden sehen, ob Frau Merkel Steh-, Durchhaltevermögen und Charakter haben wird!“, sagt der eine. Der andere schüttelt den Kopf. Er macht sich keine Hoffnungen, hat sich von der Neuwahl mehr versprochen. „Eine andere Konstellation“ und „endlich eine wirtschaftsfreundliche Politik“. Die, die da nun gemeinsam regieren müssten, könnten doch gar nichts ausrichten: „Das ist Stillstand, nicht win-win, das ist lost-lost!“ Und: „Abwarten, mal sehen, was die nun wirklich inhaltlich aushandeln werden.“

Außerdem haben sie sowieso andere Sorgen. Auch ihnen stehe schließlich „gerade heute auch ein Regierungswechsel“ bevor. Nach der gescheiterten Fusion mit dem Londoner Finanzplatz und Krach im die Hedge Fonds hatten die Großaktionäre den Frankfurter Börsen-Vorstandsvorsitzenden Werner Seifert zum Rücktritt gezwungen. Sein Nachfolger, der bisherige Chef der Schweizer Börse, Reto Francioni, ist umstritten, sein Kurs noch unklar.

Die Bistros um die Börse sind leer, nur im Cafeterio um die Ecke ist Zeit für einen Stehkaffee. Das Zeitungsangebot ist auf Daumenkino eiliger Börsianer zugeschnitten: Handelsblatt, Financial Times, FAZ und Welt. Banker Jonathan Fields aus London ist in Geschäften unterwegs und findet es „very nice“, dass in Deutschland ein „girl“ Regierungschefin wird. Die Durchsetzungskraft von Mrs.Thatcher traut er ihr nicht zu: „Sie ist keine eiserne Lady.“ Zwei italienischen Kollegen, die den hausgerösteten Cafet Ero Blend genießen, sparen sich jeden Kommentar und bewundern nur das neue Chaos der Deutschen: „Que cosa, was macht ihr hier nur?“

Die beiden älteren Damen, graue Locken, Kostüme, Perlenketten, sind kaum ein paar Minuten in der Börse und stocksauer: „Wir sind sehr unfreundlich empfangen worden!“ Sie sind aus Brandenburg angereist und wollten „nur mal einen Blick hineinwerfen“. Sie sind mit diesem Anliegen nicht über die Empfangshalle hinausgekommen. Mit einem barschen „Das haben Sie ja nun getan!“ wurden sie wieder hinauskomplimentiert. Frankfurts Oberbürgermeisterin Petra Roth (CDU) hält sich zurück. Die Stadtkasse wartet auf Entscheidungen zu Gewerbesteuer, Hartz IV und Kinderbetreuung. Roth sagt diplomatisch: „Merkel ist eine Partnerin der Städte.“ Von ihr verspreche sie sich „wirtschaftliche Impulse“.

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