: Wir wollten „Das Wunder“ sein
Ich erinnere Rio heute als einen Menschen, den ich in all seiner Zerrissenheit geliebt habe. Für mich ist Liebe etwas Absolutes. Rio in seiner Schaffenskraft zu bewundern, das war leicht. Und als Bühnenmensch ist er bis heute in Deutschland unerreicht.
Unsere Beziehung war sehr intensiv, auch in intellektueller Hinsicht. Zwischen uns gab es eine große Zärtlichkeit, Geborgenheit und eine geistige Liebe. Die zeigte sich etwa in unseren Frühstücksgesprächen, die sich manchmal endlos hinzogen.
Außerdem haben wir nicht nur über seine Texte diskutiert, – er zeigte sie mir, und ich durfte sie kritisieren –, sondern er „entdeckte“ auch meine, wie zum Beispiel das eigentlich für R.P.S. Lanrue geschriebene „Zauberland“. Das war nicht nur Anerkennung, sondern eine hohe Form von Liebe.
Rio hatte eine große Sehnsucht nach sexueller Freiheit – die konnte ich durchaus teilen. Wir wollten nicht weniger als „Das Wunder“ sein. Das bürgerliche Konzept der Ehe war als „Alles Lüge!“ erkannt, alles andere als ein Sehnsuchtsort. Doch Rio war in seiner Sexualität sehr schüchtern. Aus einer tiefsitzenden Unsicherheit heraus stolperte er in Widersprüche. Denn Freiheit ist wie Wahrheit: nicht immer einfach.
Auf der Bühne war Rio phänomenal. Ganz großes Theater! Er war ein Könner darin, sich zu inszenieren. Jede Bühnenshow war komplett durchchoreografiert. Es war klar, wann er etwas sagt und wie er es sagt, wann er hinfällt, wann er wieder aufsteht und wie er aufsteht. Es gab zum Beispiel eine Nummer, bei der er zu Boden ging, als sei er tot. Ich hatte diese Show mitkonzipiert. Und dennoch: An manchem Abend stockte mir der Atem. Zwölf Takte sollten vergehen, ehe er aufstehen sollte. Nichts passierte. Er blieb liegen. „Heute ist es so weit“, dachte ich, „er ist wirklich tot.“ So abwegig war das nicht, er hatte schon immer mit seinem frühen Tod kokettiert. Noch mal zwölf Takte. Dann endlich: die Auferstehung. Ah! Das war ein Moment, in dem mir schon mal die Tränen liefen. Diese Intensität, Hingabe und Präsenz hat vor ihm und nach ihm hierzulande niemand gehabt.
Zu seinem Wesen gehörte auch eine wütende, eine verzweifelte Seite. Den Berserker à la Kinski konnte er auch geben. Das meine ich durchaus positiv, denn man darf wütend sein. Rio war jemand, der an der Welt gelitten hat. Wenn man die Dummheit, den Irrsinn, die Gleichgültigkeit und die Gier der Menschen sieht und begreift, dann muss man diese Radikalität suchen. Aus diesem Wissen und Empfinden kam seine Sehnsucht nach dem Traurigsein.
Es gibt einen nicht totzukriegenden Mythos, der besagt, Rio habe sich „der Industrie verkaufen müssen“. Unsinn. Er musste nicht den „König von Deutschland“ machen, sondern er wollte es. Er wollte den Erfolg. Und zwar den der Anerkennung. Der kommerzielle Erfolg war zweitrangig.
Nachdem sich unsere Wege Ende der Achtziger trennten, dachte ich oft: Lassen wir Zeit verstreichen, irgendwann werden wir wieder zusammenfinden, um das große Versprechen „Wir können doch Freunde bleiben“ einzulösen. Dazu hätten wir aber beide alt werden müssen. Ich glaube, Rio wollte das nicht. Nun werde ich zwanzig Jahre nach seinem Tod gefragt: Wie sollen wir Rio erinnern? – Die Antwort ist: in Liebe. Unbedingt in Liebe. Die hat er verdient.
Misha Schoeneberg, 56, ist Berliner Autor, Songwriter und Musiker. In den achtziger Jahren lebte, liebte und arbeitete er gemeinsam mit Rio Reiser
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