piwik no script img

Weg nach Westen führt über Griechenland

Flüchtlinge Infolge des Abkommens zwischen der EU und der Türkei ist die Zahl der Flüchtlinge stark gesunken. Würde der Vertrag gekündigt, käme Griechenland schnell an seine Kapazitätsgrenzen

BERLIN/ATHEN taz | Fünf Monate sind vergangen, seit die EU mit der Türkei das Abkommen über die Rücknahme von Flüchtlingen geschlossen hat. Seitdem ist die Zahl neu ankommender Flüchtlinge in Europa stark gesunken.

Die Türkei hindert Flüchtlinge an der Ausreise nach Griechenland und Bulgarien, wenngleich Grenze und Küste keineswegs hermetisch abgeriegelt sind. Rund 57.000 Flüchtlinge erreichten trotzdem seit dem 20. März Griechenland, mehrere Tausend weitere Bulgarien. In den vergangen Nächten kamen laut dem UN-Flüchtlingswerk UNHCR durchschnittlich zwei bis drei Boote mit etwa 50 bis 100 Menschen auf den Ägäis­inseln an.

Die EU hat auf den Inseln Lesbos, Samos, Kos, Chios und Leros sogenannte Hotspots eingerichtet. In diesen Lagern werden die Flüchtlinge registriert und 25 Tage lang interniert. Dort versuchen Beamte der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Herkunft und Identität festzustellen. Danach werden die Flüchtlinge aus den Lagern entlassen, müssen aber mit Ausnahme Schwerkranker auf den Ägäisinseln verbleiben. Sie sind dort auf provisorische Aufnahmeeinrichtungen angewiesen.

Das EU-Abkommen mit der Türkei sieht vor, die Flüchtlinge dorthin zurückschieben zu können. Tatsächlich macht Griechenland hiervon bislang kaum Gebrauch. Nur einige Hundert Flüchtlinge wurden in den letzten Monaten abgeschoben. Eine Kommission der griechischen Behörden hat Beschwerden von Flüchtlingen recht gegeben, die argumentiert hatten, dass die Türkei für sie nicht sicher sei.

Die sogenannte Balkanroute gilt offiziell als geschlossen, tatsächlich gelingt es Flüchtlingen aber durchaus noch, Griechenland und die Türkei in Richtung Norden zu verlassen. Polizei und Militär in Mazedonien gehen nach Berichten von NGOs offensiv gegen Flüchtlinge vor und schicken diese direkt nach Griechenland zurück, sofern sie sie aufgreifen.

Durchlässiger ist die Grenze nach Bulgarien. Die Regierung in Sofia hat in der letzten Woche verkündet, nach dem Putsch in der Türkei 500 Menschen nach einem Grenzübertritt verhaftet zu haben. Tatsächlich ist die Zahl der Flüchtlinge, die durch Bulgarien reisen, unbekannt. 2015 registrierte Frontex in Serbien siebenmal so viele Grenzübertritte aus Bulgarien wie Einreisen nach Bulgarien aus Richtung Griechenland und Türkei. Die meisten Menschen schafften es also unerkannt in das Land.

Insgesamt aber ist die Zahl der Flüchtlinge in den Balkanstaaten und in Griechenland im Vergleich zum Vorjahr sehr niedrig, entsprechend hat sich die Lage etwas beruhigt.

Dies dürfte sich ändern, sollte der türkische Staatspräsident Erdoğan seine Drohung wahr machen, das Abkommen zu kündigen.

Die Türkei könnte sich fortan weigern, Flüchtlinge aus Griechenland zurückzunehmen. Da Griechenland aber kaum dorthin abgeschoben hat und die Wahrscheinlichkeit für eine Änderung dieser Praxis nach dem Putsch erheblich gesunken ist, hätte dies kaum nennenswerte Folgen.

Zudem könnte Erdoğan Polizei und Militär anweisen, niemanden mehr an der Ausreise zu hindern. Solange die Aussichten für den weiteren Weg durch Griechenland und die Balkanregion so unsicher sind wie derzeit, würde dies vermutlich keine Fluchtbewegung wie im vergangenen Jahr auslösen. Doch nach wie vor kommen viele Flüchtlinge aus Irak, Pakistan, Iran, Nordafrika und ­Afghanistan über die Türkei. Und wenn sich nur ein kleiner Teil der rund 2,7 Millionen SyrerInnen in der Türkei auf den Weg machen würde, wäre die Lage schnell politisch überaus heikel.

Die Hotspots auf den Ägäisinseln wären in kürzester Zeit voll. Die griechische Regierung müsste die Weiterreise auf das Festland gestatten. Die Aufnahmekapazitäten dort sind ausgereizt, Grenzübertritte in Richtung Balkan würden schnell zunehmen.

Vor allem Serbien, Ungarn und Mazedonien würden erneut Polizei und Militär in Stellung bringen; die Bilder aus dem vergangenen Jahr, als mit Plastikgeschossen und Tränengasgranaten auf Flüchtlinge geschossen wurde, dürften sich wiederholen.

In der EU wäre damit das Schengener Abkommen über freie Binnengrenzen in Gefahr. Die derzeitigen Ausnahmeregelungen für Deutschland, Schweden, Norwegen, Dänemark und Österreich gelten bis Ende 2016. Doch Österreich will die Grenzen so lange geschlossen halten wie Flüchtlinge in großer Zahl aus den Balkanstaaten ankommen. Christian Jakob

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen