: „Das Stichwort lautet Geduld“
Praxis Reden statt Ruhigstellen: Martin Zinkler ist Vorreiter auf dem Gebiet der zwangfreien Psychiatrie. Berlin muss noch einiges dazulernen, sagt der Chefarzt aus Baden-Württemberg
51, ist Chefarzt an der Klinik für Psychiatrie, Psychotherapie und Psychosomatik in Heidenheim, Baden-Württemberg. Er ist Vorreiter auf dem Gebiet der zwangfreien Psychiatrie und Redaktionsmitglied der Zeitschrift Recht & Psychiatrie.
taz: Herr Zinkler, ist Berlin ein Nachzügler, was die Zwangsbehandlung angeht?
Martin Zinkler: Zeitlich ist Berlin ganz weit hinten, wenn man bedenkt, dass die Gesetzesänderung schon seit 2011 fällig ist. Aber die Bayern sind noch langsamer.
Wieso gibt es in Deutschland überhaupt noch Zwangsbehandlungen?
Lange Zeit nahm man an, dass die Zwangsbehandlung die einzige Lösung sei. Zudem sind die gesetzlichen Kriterien dafür zu weit gefasst. Dabei würden viele Ärzte zu anderen Methoden wie der Deeskalation greifen, wenn sie die Möglichkeit zur Zwangsmedikation gar nicht erst hätten. Dass es nämlich auch ohne geht, zeigen Kliniken, die auf deeskalierende Maßnahmen setzen. Doch die meisten Ärzte hängen an den Medikamenten. Denn die Behandlung ist schneller und günstiger, wenn man einfach zur Tablette oder Spritze greifen darf, anstatt Gespräche zu führen.
Was bedeutet Deeskalation genau?
Das Stichwort lautet Geduld. Wir müssen den Patienten signalisieren, dass wir uns für sie interessieren und in kritischen Situationen die richtigen Fragen stellen: Was könnte Ihnen jetzt guttun? Manchmal hilft reden, manchmal schweigen, Bewegung oder Rückzug. Wir verabreichen niemandem auf Zwang Medikamente. Wir raten lediglich dazu, sie zu nehmen. So schaffen wir von Beginn an ein Vertrauensverhältnis. Auch Patienten sind selbstbestimmte Menschen.
Wo haben deutsche Psychiatrien Nachholbedarf?
In der Personalentwicklung. Im psychiatrischen Notfalldienst sollten Peers, also Menschen mit psychiatrischer Erfahrung, mitarbeiten. Denn das kommt bei den Patienten gut an. Wenn man sich in deutschen Krankenhäusern umschaut, findet man das nur an der Universitätsklinik in Hamburg-Eppendorf. In England gibt es dagegen bereits 600 Stellen. Wir müssen uns der Möglichkeit öffnen, von den Peers zu lernen, mit welchem Verhalten man einen Zugang zu psychisch kranken Menschen bekommt. Denn so kann man diese dabei unterstützen, Entscheidungen über ihre Gesundheit selbst zu treffen. Unser Ziel sollte es sein, mehr Verständnis in Notfallsituationen herzustellen, statt stellvertretende Entscheidungen zu fällen.
Und wenn ein Patient andere Menschen angreift oder suizidgefährdet ist?
Dann muss man irgendeine Art von Kontakt aufnehmen. Die meisten erschrecken erst mal vor Verrücktheit. Da herrscht großer Handlungsdruck, insbesondere seitens des Personals, das den Patienten aus Angst lieber ruhigstellt. Stattdessen sollten wir probieren, eine Einigung zu erzielen, indem wir etwa auf Zwangsmaßnahmen verzichten, wenn der Patient sich bereit erklärt, erst mal eine Nacht in der Klinik zu bleiben. Unsere Erfahrung zeigt, dass das sehr gut klappt. Den Weg hin zur zwangfreien Psychiatrie müssen wir ganz gehen.
Wie beurteilen Sie das neue Berliner Psychisch-Kranken-Gesetz?
Im Vergleich zum baden-württembergischen Gesetz hinkt das Berliner Gesetz hinterher. Sowohl in der Dokumentationspflicht als auch in der Behandlung. In Baden-Württemberg ist die Schwelle für Zwangsmaßnahmen höher, und es gibt ein verbindliches Register. Daran sollte Berlin sich anpassen.
interview Jasmin Sarwoko
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