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Panter IV Die Aktivist*innen des Göttinger Projekts OM10 leisten mit einem radikalen Ansatz sehr konkrete Hilfe für Geflüchtete und kämpfen nebenbei noch gegen den Leerstand in der InnenstadtAus dem Herzen der Stadt

AUS GÖTTINGEN Gina Bucher

Nicht alle sind da, aber viele: Die Gruppe „Our House OM10“, die vor sieben Monaten das DGB-Haus in Göttingens Oberer-Masch-Straße besetzt hat, ist groß. Gut fünfzig Aktivistinnen nahmen im letzten November das ungenutzte Haus an sich, um gegen Leerstand und für eine menschenwürdige Flüchtlingspolitik zu protestieren. Schnell solidarisierten sich viele Göttinger mit den Besetzerinnen, inzwischen kann OM10 auf ein Netzwerk von weit über hundert Unterstützer*innen zählen, rund dreißig kommen regelmäßig zu den Besprechungen im Sitzungssaal. Dort, wo jetzt zwischen zwei riesigen Schwarzweiß-Kopien der ersten 1.-Mai-Kundgebung 1890 auch eine rosa Refugee-Welcome-Fahne aus glänzendem Stoff aufgespannt ist.

Hierher sind heute Susanne (54), Marcus (44), Jutta (49), Lisa (28), Felix (32) und Udo (62) gekommen, um OM10 vorzustellen. „In Göttingen steht sehr viel leer. Es kann nicht sein, dass Geflüchtete in Unterkünfte gepfercht werden, während hier alles leer steht. Wir wollen ein anderes Modell von Zusammenleben mit Geflüchteten“, erklärt Susanne mit Brille, Kurzhaarschnitt und klingendem Lachen das Anliegen der sehr heterogenen Gruppe. Nie hätten sie gedacht, dass ihr Projekt so erfolgreich wird. Der Schichtplan der Hausbesetzer reichte ursprünglich für drei Tage.

Das Haus gehört der Berliner Vermögensverwaltungs- und Treuhand GmbH, einer Tochtergesellschaft des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), der das Gebäude sechs Jahre lang leer stehen ließ. Bis 2009 tagten hier verschiedene Gewerkschaften. Als sie auszogen, zog niemand mehr ein, einzig ein Raum wurde vom örtlichen Fußball-Fanklub 05 gemietet und wird noch immer genutzt. Seit der Besetzung dient das vierstöckige Bürogebäude als Wohnhaus für Geflüchtete und Nichtgeflüchtete sowie als Aktionszentrum für Fluchthilfe und Veranstaltungen.

Dass das Haus noch nicht geräumt wurde, hat auch damit zu tun, dass sich OM10 auf breite Solidarität in Göttingen und überregional stützen kann. Besonders nachdem Hartmut Tölle, der Landesvorsitzende des DGB in Niedersachsen und SPD-Mitglied, Ende Januar im Göttinger Tageblatt zitiert wurde mit: „Man muss bei allem Gutmenschentum auch mal aussprechen, dass die Neigung, Flüchtlinge in der Altstadt zu haben, nicht so ausgeprägt ist.“

Eine generationenüber­greifende Hausbesetzung

Viel Besuch bekamen die Besetzer*innen seither, auch von lokalen Gewerkschafter*innen, die ankündigten, bei einer Räumung müsste die Polizei auch sie raustragen. Und immer noch werden Spenden vorbeigebracht, Kleidung, Matratzen, eine komplette Schultafel, ja sogar zwanzig identische, stapelbare Stühle. Über die ist die Freude ganz besonders groß: Sie dienen für die Plena, die zweimal wöchentlich hier im Saal stattfinden. Montags, wenn über die Zukunft diskutiert wird, und mittwochs, wenn für aktuelle Probleme Lösungen gesucht werden. Alle Entscheide werden basisdemokratisch gefällt. Das brauche Zeit, aber sei es wert, sind sich alle einig.

Our House OM10

„Our House OM10“ ist ein generationenübergreifendes Hausbesetzer*innen-Projekt an der Oberen-Masch-Straße 10 in Göttingen, das Fluchthilfe anbietet sowie Unterkünfte für Geflüchtete und Nichtgeflüchtete.

Das Projekt setzt sich gegen Leerstand in Göttingen ein und fordert ein anderes Modell des Zusammenlebens zwischen Heimischen und Geflüchteten.

Das Projektblog: omzehn.noblogs.org

Weniger einig sind sie sich über den Stil der Entscheidungsfindung: Während die Älteren gewohnt sind auch einmal aus der Haut zu fahren, bestehen die Jüngeren auf gesittetere Diskussionen. OM10 ist eine generationenübergreifende Besetzung. Die Aktivist*innen von OM10 sind 16 bis 70 Jahre alt, einige haben Besetzererfahrungen aus den Achtzigern, andere besetzen zum ersten Mal ein Haus. Gemeinsam ist allen das Ziel, friedlich der hiesigen Wohnungs- und Flüchtlingspolitik ein konkretes Beispiel gelungenen Zusammenlebens entgegenzusetzen. Konflikte gibt es natürlich, aber der gegenseitige Ideen- und Erfahrungsaustausch hat OM10 immerhin so stark gemacht, dass nun Verhandlungen mit dem DGB stattfinden. Ein Verein ist gegründet worden, der die Trägerschaft übernehmen kann.

OM10 ist es wichtig, nicht im illegalen Hausbesetzungsstatus zu bleiben, sondern ihr Projekt zu legalisieren. Nicht nur, damit sich die Bewohner*innen legal anmelden können, sondern auch, um die Kräfte zu bündeln. „Eine Legalisierung würde uns helfen, dass wir wieder stärker zum Thema Wohnungsnot und Flüchtlingspolitik an die Öffentlichkeit treten können, was ja unser eigentliches Anliegen ist: Wir fordern, dass auch Geflüchtete ganz normalen Wohnstandard bekommen“, erklärt Felix, 32, im grünen Kapuzenpulli mit ruhiger Stimme. Er verdient sein Geld als Soziologe und gehört bei OM10 zur Presse-AG.

Neben den ständigen Hausbewohnerinnen kommen regelmäßig Aktivistinnen ins Haus in der Oberen-Masch-Straße 10. Um in einer der diversen Arbeitsgruppen mitzuhelfen, Bettwäsche auszuwechseln, Deutsch zu unterrichten, Tee zu kochen oder sich Argumente für die weiteren Verhandlungen mit den Hausbesitzern zu überlegen.

Bei einem Rundgang zeigt Marcus, 44, wie sie die Räume der oberen Etagen in vier kleinere Wohneinheiten unterteilten, wo neulich gespendetes Laminat verlegt wurde und sich kürzlich eine Frauen-WG gründete. An einer Zimmertür, die Marcus nicht öffnet, klebt ein Zettel mit unbeholfenen Buchstaben: „Hier wohnt/here lives Majid.“ Auch eine andere Tür bleibt geschlossen, weil dahinter ein Mann gerade schläft, der ein Jahr lang mit einer unbehandelten Schusswunde unterwegs war. OM10 hat ihn an die Medizinische Flüchtlingshilfe vermittelt, zuerst aber ruht er sich aus.

Privatsphäre ist wichtig, sind sich die Aktivistinnen einig. Deshalb wohnt zum Beispiel Zubie aus Pakistan hier. In der Flüchtlingsunterkunft, in die sie zugeteilt wurde, werde sie als Transfrau gehänselt. Hier dagegen fühle sie sich sicher und habe viele Freundinnen gefunden. OM10 ist ein Refugium für Geflüchtete geworden, nicht nur durch das Engagement der Hausbesetzer*innen, sondern auch durch die Arbeit vieler anderer Göttinger Bürger*innen. So helfen etwa lokale Handwerksbetriebe, das Haus mit nachhaltigem Blick sanft zu renovieren. Beispielsweise Jens, ein Elektromeister, der die Stromversorgung des Hauses kontrollierte und bei elektrischen Umbauten hilft, oder Bernd, ein Sanitärmeister, der sich zusammen mit anderen um eine zweite Dusche kümmert.

Dass die Umbauten Bestand haben sollen, ist OM10 wichtig, denn „schließlich besetzen wir nicht nur, wir wollen es ja auch schön machen“, schmunzelt Marcus und führt weiter durch das Haus. In den sieben Monaten haben neben den ständigen 10 Bewohner*innen rund 600 Geflüchtete vorübergehend in der Oberen-Masch-Straße 10 übernachtet. Bis die Balkanroute geschlossen wurde, strandeten viele Geflüchtete am Göttinger Bahnhof und mussten dort – Winterkälte hin oder her – ihre Nacht verbringen.

Der Panter Preis 2016

Der taz Panter Preis: zeichnet Menschen aus, die sich mit starkem persönlichem Einsatz für eine bessere Welt engagieren. Jedes Jahr werden dafür zwei mit je 5.000 Euro dotierte Preise verliehen.

Porträts: Bis Ende Juli stellen wir Ihnen die sechs nominierten Einzelpersonen und Initiativen hier in der taz.am wochenende vor.

Leser*innenwahl: Vom 6. Au­gust an können Sie dann Ihre Favoritin/Ihren Favoriten wählen: per Mail, per Post oder auf der Internetseite www.taz.de/panter.

Verleihung: Am 17. September werden Leser*innen- und Jurypreis im Deutschen Theater Berlin verliehen.

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Utopie wird konkret

Udo, Jutta und Susanne etwa machten sich oft zusammen mit Arabisch sprechenden Hausbewohner/-innen auf den Weg zum Bahnhof, um dort Geflüchtete mit süßem Tee – „viel süßem Tee“, lächelt Udo – zu begrüßen. Noch immer werden am Bahnhof Gestrandete nachts in die Obere-Masch-Straße 10 eingeladen, werden ihnen ein Bett, Essen, Steckdosen für Handys und Gespräche angeboten. Es sind weniger geworden, aber immer noch sind Geflüchtete unterwegs, einzelne sind gerade erst in Deutschland angekommen. Viele kennen sich einfach nicht aus, verirren sich.

„OM10 funktioniert, weil ganz viele mitmachen“, betont Jutta und erzählt von der Bettwäsche, die wöchentlich von Freiwilligen abgeholt wird, um sie gewaschen wieder zurückzubringen – ein kleines Detail mit großer Wirkung. Auf die Frage, was sich OM10 für die Zukunft wünscht, muss Marcus nicht lange überlegen: „Die Zukunft kann gerne so sein, wie sie jetzt schon ist.“ Worauf Susanne ergänzt: „Jetzt gibt es Gespräche, wie sich das bewerkstelligen lässt.“ Sie ist Teil der Verhandlungs-AG. Viele Punkte, über die jetzt verhandelt wird, klangen vor Kurzem noch utopisch – dass OM10 zum Beispiel das Haus dem DGB zu einem politischen Preis abkaufen könnte. Andererseits, lacht Marcus: „Wer hätte schon gedacht, dass wir überhaupt je so weit kommen?“

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