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Sowjetische Briefkästen

AUFBRUCH Im Idealfall könnte ein höchstpersönlich reparierter Hausbriefkasten eine Revolution in Russland auslösen. Tut es aber nicht

Das ist sehr russisch: Hand auflegen, sich etwas wünschen und vergnügt zu Bett gehen, in der Hoffnung, dass morgen alles gut wird

VON IRINA SERDYUK

Vor nicht allzu langer Zeit hat Alexej Navalnyj, ein Anwalt und bekannter Blogger in Russland, allen Ernstes das Foto seines von ihm persönlich reparierten Hausflurbriefkastens ins Internet gestellt. Man muss das wiederholen: sein von ihm persönlich reparierter Hausflurbriefkasten. Denn was das genau bedeutet, kann nur derjenige erfassen, der aus dem Land kommt. Seit zwanzig Jahren starren in Millionen postsowjetischen Hauseingängen nämlich kaputte Briefkästen ihre Besitzer klagend an. Selbst diejenigen von ihnen, deren verbogene Türchen sich per geschickten Faustschlag einhaken lassen, hängen windschief an den Wänden. Briefkastenschlüssel? Sie existieren nicht.

Den Leuten schien das bisher gar nichts auszumachen. Mir übrigens auch nicht, solange ich in der Ukraine lebte. Erst seit ich im Westen wohne, habe ich meinen Briefkastenschlüssel immer griffbereit. Mindestens einmal im Jahr aber stehe ich vor Mamas Briefkasten in der Ukraine, mir die Finger wund reibend und fluchend, weil sich die verdammte Post nicht herausfischen lässt. Auf die simple Idee, das Schloss auszutauschen, bin ich bisher nie gekommen.

„Ich war mir eigentlich sicher“, schreibt Navalnyj, der Blogger, „dass Briefkästen das Eigentum der Post sind. Mitnichten! Wir, die Wohnungsbesitzer allein, sind dafür zuständig!“ In diesem einem Wort – „mitnichten“ – steckt Revolutionspotenzial. Kein Wunder, dass Präsident Putin vor Navalnyj panische Angst hat. Denn was würde passieren, wenn morgen alle Russen Navalnyjs Aufruf Folge leisteten und ihre Briefkästen reparierten? Würden sie etwas verstehen? Etwa, dass man auch andere Dinge anpacken oder sich vorknöpfen könnte?

Mir jedenfalls hat das heftig zu denken gegeben. Was veranlasst einen Menschen zu handeln? Warum ist es für den einen selbstverständlich, für seine unmittelbare Umgebung Sorge zu tragen, während der andere nicht einmal einen Gedanken daran verschwendet? Und eine viel spannendere Frage: Wofür stehe ich eigentlich – für das Tun oder für das Lassen?

Wie kann es nur sein, dass ich in Berlin meinen Müll säuberlichst sortiere, beim Lüften im Winter automatisch die Heizung herunterdrehe und pingelig darauf achte, dass die nadelnde Weihnachtstanne in einem speziellen Plastiksack versiegelt wird, bevor sie entsorgt wird? Das ist das Einerseits. Andererseits aber lasse ich, wenn ich bei der Freundin in Kiew bin, zu, dass stundenlang heißes Wasser aus dem Hahn läuft, weil, so die Erklärung, ja immer wieder etwas abzuwaschen sei. Bei der Tante in Odessa wiederum sehe ich tagelang zu, wie der Gasherd nicht ausgemacht wird, nur weil Streichhölzer gerade Mangelwaren sind. Selbst Müll, der mir auf den Kiewer Straßen aus der Hand fällt, weil weit und breit kein Mülleimer in Sicht ist, beunruhigt mich nicht. Wie passt das nur zusammen? Werde ich drüben zu einem anderen, womöglich schlechteren Menschen?

Schaufelmentalität

Vor Kurzem hat das ukrainische Institut für Weltpolitik ein Onlinetest auf das Vorhandensein einer „Post-Sowok-Mentalität“ initiiert. „Sowok“ stammt von „sowjetisch“, heißt übersetzt „Schaufel“ und steht abwertend für das Bild eines passiven und entmündigten Bürgers. Dem Test lag eine umfassende Forschung zugrunde, der zufolge selbst die junge Generation der Ukrainer, die mit der Sowjetunion nichts mehr am Hut hat, in ihren Verhaltensmustern das postsowjetische Syndrom aufweist. Sprich: Vom Präsidenten wird erwartet, dass er alles unter Kontrolle hat. Schmiergeld wird als das natürliche Mittel der Problemlösung betrachtet. Und dem Aufruf, eigene Straßen sauber zu machen, wird nicht gefolgt, weil „es eigens dafür geschaffene Dienste gibt“.

Mir persönlich hat der Test die Verinnerlichung „hoher europäischer Standards“ bescheinigt. Ach was. Viel mehr interessiert mich, wie meine Kinder abgeschnitten hätten. Sie sind zwar in Berlin geboren, himmeln aber ihre ukrainischen Omas an. Haben sie sich etwa während der Besuche bei ihnen durch deren „postsowjetische Gewohnheiten“ infizieren lassen? Schließlich laufen die Kinder an Omas kaputtem Briefkasten genauso teilnahmslos vorbei wie ich.

Die Frage ist, wie und wann bekommt man vermittelt, dass man kollektive Verantwortung tragen kann? Und ab welchem Alter ist es bereits zu spät, seine Sinne für das Ins-Reine-Bringen zu schärfen? Ist so etwas überhaupt erlernbar? Oder kommt man genetisch bedingt als „sowok“, als „Schaufel“, zur Welt? Wenn ja, wie viele Generationen lang? Werde ich überhaupt der Aufgabe gerecht, verantwortungsvolle Bürger mit ausgeprägtem Bewusstsein für Ordnung erziehen zu können? Und – hallo! – stehe ich allein da oder hilft mir hier jemand?

Mal schauen, was das deutsche Bildungssystem in puncto Sauberkeitserziehung zu vermelden hat. Bereits Kitakinder können mit Lappen und Feger besser umgehen als mit ihren Schnürsenkeln. Schere – in die Schublade, Teller – auf das Tablett, Stiefel – ins Fach.

Im Kindergarten meiner Kindheit dagegen gab es außer der Erzieherin eine „Njanetschka“, die sich ausschließlich mit Wisch-, Wasch- und Wechselverrichtungen beschäftigte. Die Kinder hatten mit derlei niederen Angelegenheiten nichts zu tun. In der deutschen Grundschule wird dem Putzen dagegen der Rang eines übergeordneten Fachs mit entsprechender Benotung verliehen. Bis vor Kurzem ahnte ich nichts von der Existenz eines Tafelamts oder eines Pflanzengießamts.

Weltordnungsideen

In der Schule meiner Kindheit dagegen wurde nach Sternen und nicht nach Kannen und Lappen gegriffen. Wir fühlten uns für die Weltordnung zuständig. Von der Wandzeitung aus starteten Appelle in die weite Welt, den Krieg in Vietnam zu stoppen. Auch bei den Körpereinsätzen ging es um Bahnbrechendes: Altmetall für neue Raketen sammeln oder die Kartoffelernte retten. Geputzt haben andere.

Neulich entdeckte ich, dass auch mein Sohn darauf vertraut, dass andere es tun, als er neben die Kloschüssel pinkelte. Selbstzweifel nagen deshalb an mir: Hab ich vergessen, ihm zu sagen, dass er sich beim Pinkeln setzen muss? Schweres Erbe? Muss ich mir Sorgen machen?

Der erwartete große Briefkasten-Nachahmungseffekt, den der Blogger mit seinem Bild auslösen wollte, ist bisher übrigens ausgeblieben. Die Russen wollen lieber Luftschlösser bauen, für kleinteilige Bedarfsfertigungen sind sie nicht zu haben. 2005 war Putin aus dem Anlass des 750. Stadtjubiläums von Königsberg bei der Einweihung eines preußischen Katers aus Bronze, des symbolischen Behüters des Königstors, anwesend. Laut Legende sollte man den Kater streicheln und sich dabei etwas wünschen, was Putin auch willig tat. Offensichtlich hatte das Wunder gewirkt, denn Putin ließ sich ein zweites Exemplar schenken. Die Schöpferin des Katers meint zu wissen, dass das Tier seitdem seinen Flur ziert und von ihm beim Rein- und Rausgehen immerzu gekrault werde. Das ist sehr russisch: kurz Hand auflegen, sich dabei etwas wünschen und vergnügt zu Bett gehen, in der Hoffnung, dass morgen alles gut wird. Ich gehe jede Wette ein, dass Putins Briefkasten ganz ist.

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