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Über sich hinauswachsen

PRIVATSCHULEN Die Quinoa-Schule im Wedding will Kinder aus benachteiligten Familien zum Schulabschluss verhelfen – und zum Vorbild für andere Schulen werden. Kann das klappen?

„Die Kinder hier können alle etwas“: Lehrerin Juliane Schäfer mit ihren AchtklässlerInnen Foto: Piero Chiussi

von Anna Klöpper

Fiona Brunk liebt Sta­tis­ti­ken. An einem Don­ners­tag­abend, das Schul­jahr neigt sich dem Ende ent­ge­gen, steht die Grün­de­rin der pri­va­ten Qui­noa-Schu­le in der Wed­din­ger Küh­ne­mann­stra­ße auf einer klei­nen Bühne in der nüch­ter­nen Schul­au­la, die bis vor Kur­zem noch die Pro­duk­ti­ons­hal­le einer Kos­me­tik­fa­brik war, und zieht Bi­lanz nach zwei Jah­ren Schul­be­trieb. Der An­teil der Schü­le­rIn­nen aus Hartz-IV-Haus­hal­ten in den zwei Jahr­gän­gen, eine sieb­te und eine achte Klas­se: 87 Pro­zent. Kin­der, bei denen Deutsch zu Hause nicht Mut­ter­spra­che ist: vier von fünf.

Brunk, pro­mo­vier­te Ma­the­ma­ti­ke­rin, mag Sta­tis­ti­ken – am liebs­ten wi­der­legt sie diese. „Was wir hier ganz schnell ge­merkt haben“, sagt die Schul­lei­te­rin auf dem Po­di­um: „Die Kin­der wach­sen über ihre sta­tis­ti­schen Mög­lich­kei­ten hin­aus.“

Die „sta­tis­ti­schen Mög­lich­kei­ten“ sind folgende: In Mitte mach­ten im ver­gan­ge­nen Schul­jahr knapp 20 Pro­zent der Schul­ab­gän­ge­rIn­nen kei­nen Ab­schluss. Der ber­lin­wei­te Durch­schnitt liegt bei rund 11 Pro­zent.

Schule für den Wedding

Das Ziel von Brunks Pri­vat­schu­le, die jedes Schul­jahr eine sieb­te Klas­se auf­ma­chen will, ist nicht we­ni­ger als Voll­be­schäf­ti­gung: Die Ju­gend­li­chen sol­len nicht nur alle nach zehn Schul­jah­ren ihren Mitt­le­ren Schul­ab­schluss oder die Be­rufs­bil­dungs­rei­fe, den frü­he­ren Haupt­schul­ab­schluss, erlangen – son­dern in­ner­halb von vier Jah­ren nach Schu­len­de auch eine Be­rufs­aus­bil­dung be­en­det oder einen Stu­di­en­platz ge­fun­den haben. Keine Selbst­ver­ständ­lich­keit in dem Be­zirk, wo ein Vier­tel der Be­woh­ne­rIn­nen Hartz IV be­kommt – ber­lin­weit ist es im Schnitt jeder Fünf­te.

Als sich die Qui­noa-Schu­le vor zwei Jah­ren grün­de­te, war die gesellschaftliche Auf­merk­sam­keit für das Pri­vat­schul­pro­jekt groß. Natürlich hätten die Redaktionen ihre Reporter nicht in den Wedding geschickt, hätte da ein­fach eine Pri­vat­schu­le mit einem etwas ungewöhnlich an­mu­ten­den Namen in einem als etwas schwie­rig gel­ten­den Stadt­be­zirk auf­ge­macht. Aber hier grün­de­te je­mand eine Pri­vat­schu­le nicht nur im, son­dern für den Wed­ding. Für die­je­ni­gen also, die in den Sta­tis­ti­ken immer in den fal­schen Spal­ten vor­kom­men.

Die Ker­n­idee der Qui­noa-Schu­le ist ein Sti­pen­dien­mo­dell. Kin­der aus ein­kom­mens­schwa­chen Fa­mi­li­en be­kom­men das Schul­geld ganz oder teil­wei­se er­las­sen. Von den 52 Siebt- und Acht­kläss­le­rIn­nen haben 43 ein Voll-, 7 ein Teil­sti­­pen­­di­um. Stif­tun­gen und pri­va­te Spen­der über­neh­men an der Qui­noa-Schu­le die El­tern­bei­trä­ge, mit denen sich freie Schu­len, neben staat­li­chen Zu­schüs­sen zu den Per­so­nal­kos­ten, sonst fi­nan­zie­ren.

„Wir wol­len“, ruft Fiona Brunk in das Mi­kro­fon, „allen Kin­dern gute Bil­dung an­bie­ten kön­nen, ohne dafür 2.000 Euro Schul­geld im Monat zu ver­lan­gen.“ Ap­plaus.

Tat­säch­lich könn­te an der Qui­noa-Schu­le etwas funk­tio­nie­ren, was vie­len öf­fent­li­chen Schu­len nicht ge­lin­gen mag: den Ju­gend­li­chen zu ver­mit­teln, dass Schu­le mehr sein kann als ein ner­vi­ges Übel, das man nur viel­leicht zu einem Ab­schluss bringt.

Mitt­woch­mor­gen, 8.30 Uhr, Deutsch: Die achte Klas­se soll ler­nen, wie man ar­gu­men­tiert. Ich bin dafür, dass … Ich bin da­ge­gen, weil … Pro, Kon­tra. Thema: Sol­len so­zia­le Netz­wer­ke wie Face­book ver­bo­ten wer­den? Auf dem White­board, einer Art di­gi­ta­len Tafel, läuft eine Stopp­uhr und misst die Zeit, die am Stun­den­an­fang ver­geht, bis Ruhe in der Klas­se ein­kehrt. Sind es we­ni­ger als zehn Mi­nu­ten in einer Dop­pel­stun­de, gibt es einen Lob­punkt. Sind am Ende der Woche genug Lob­punk­te zu­sam­men­ge­kom­men, gibt es ein Eis zur Be­loh­nung. Auch für Pünkt­lich­keit gibt es Lob­punk­te oder für das En­gage­ment in einer AG.

„Die Kin­der hier kön­nen alle was“, sagt Klas­sen­leh­re­rin Ju­lia­ne Schä­fer, die ver­gan­ge­nes Jahr ihr Re­fe­ren­da­ri­at an einem Gym­na­si­um in Bay­ern be­en­det hat. „Das Pro­blem ist, sie glau­ben oft nicht an sich.“

Also müssen das die Leh­re­rIn­nen tun. Fragt man die Qui­noa-Schü­le­rIn­nen, die alle von öf­fent­li­chen Grund­schu­len aus dem Be­zirk kom­men, ist es das, was sie be­to­nen: Die Leh­rer an der Qui­noa-Schu­le sind mo­ti­viert, sie sind we­ni­ger ge­nervt und haben mehr Zeit für uns. Viel­leicht, weil viele im Kol­le­gi­um das Pro­jekt auch sehr per­sön­lich neh­men, so wie Schä­fer, die nach ihrem Re­fe­ren­da­ri­at „etwas Sinn­vol­les“ tun woll­te.

Mit Si­cher­heit aber auch, weil die Res­sour­cen hier bes­ser sind als an vie­len öf­fent­li­chen Schu­len. In der Deutsch­stun­de am Mitt­woch steht neben Schä­fer auch noch Leh­rer Jonas Akaou in der Klas­se. In der Qui­noa-Schu­le ist das der Nor­mal­fall, an öf­fent­li­chen Schu­len eher ein Glücks­fall.

Freie Schulen: Die Neuen

Berlin hat 122 allgemeinbildende freie Schulen. 20 Prozent der 34.000 SchülerInnen haben einen Migrationshintergrund, rund 9 Prozent sind lernmittelbefreit – das heißt, das Jobcenter übernimmt das Büchergeld.

Die Idee, „privat“ mit „sozial“ zusammenzudenken, ist offenbar angesagt: In Wilmersdorf gründet sich zum neuen Schuljahr die Freudberg-Gemeinschaftsschule.Für Kinder aus einkommensschwachen Familien soll es sechs Stipendien mit einer Laufzeit von sechs Jahren geben – zwei davon sind noch nicht vergeben. Zunächst soll eine erste Klasse eingerichtet werden, ab 2017 ist auch der Aufbau einer Sekundarstufe geplant. Träger ist die Montessori-Stiftung.

In Niederschöneweide startet im September die Freie Interkulturelle Waldorfschule mit einer ersten und einer altersgemischten zweiten und dritten Klasse – auch hier sind noch Plätze frei. Angestrebt ist ein „Gleichgewicht zwischen einkommensschwachen und einkommensstarken Haushalten“, heißt es. Türkisch und Arabisch sind ab der ersten Klasse Pflicht. (akl)

Nun er­fin­det die Wed­din­ger Schu­le das päd­ago­gi­sche Rad aber kei­nes­wegs neu: Themen werden gern in Projekten vermittelt, Praktika sind wichtig. Man lässt die Schü­le­rIn­nen im Klas­sen­rat die Schulregeln festlegen. Es gibt Tür­kisch als Wahl­pflicht­fach und für jeden Schü­ler einen Tutor. Man ver­sucht, die El­tern zu be­tei­li­gen, etwa an den „As­sem­blys“, wenn die ganze Schu­le zu­sam­men­kommt und dis­ku­tiert wird, was gut läuft und was nicht.

Selbstständige Schulleitung

Das ist alles nicht re­vo­lu­tio­när neu, vie­les von dem ma­chen die meis­ten öf­fent­li­chen Schu­len auch. Brunk glaubt, der entscheidende Vorteil von privaten Schulen liege in der Freiheit, mit der sie über Budget und Personal entscheiden können. Tat­säch­lich gibt es schon län­ger eine De­bat­te dar­über, wie frei Schul­lei­tun­gen sein soll­ten – und wol­len. In den letz­ten Jah­ren ist die Ver­ant­wor­tung der Schul­lei­te­rIn­nen eher ge­wach­sen: Sie kön­nen bei Ein­stel­lun­gen mitent­schei­den, sie kön­nen die ihnen zu­ge­wie­se­nen Mit­tel ei­gen­ver­ant­wort­lich ein­set­zen.

Vie­len Schul­lei­tun­gen ist das zu viel Ver­ant­wor­tung, an­de­re Auf­ga­ben, etwa die pä­dago­gi­sche Wei­ter­ent­wick­lung der Schu­le, kämen dabei zu kurz. Ge­ra­de von Schul­lei­tun­gen so­ge­nann­ter Brenn­punkt­schu­len hört man je­doch auch: Wir müs­sen noch selbst­stän­di­ger wer­den dür­fen, um ge­ziel­ter mit Pro­jek­ten und dem rich­ti­gen Per­so­nal auf un­se­re Schü­le­rIn­nen ein­ge­hen zu kön­nen. Auch deshalb sagt Brunk: „Unsere Schule kann Modellcharakter entwickeln.“

Damit das Wed­din­ger Schul­pro­jekt tat­säch­lich als „Mo­dell“ taugt, braucht es al­ler­dings, das weiß auch Brunk, noch Fak­ten: Schul­ab­schlüs­se, Aus­bil­dungs­plät­ze. Oder, wie es einer der Geld­ge­ber auf dem Po­di­um be­hut­sam for­mu­liert: „Wenn man po­li­tisch über­zeu­gen will, muss man Er­folg nach­wei­sen kön­nen.“ In zwei Jahren werden die jetzigen AchtklässlerInnen ihren Mittleren Schulabschluss machen. Eine entscheidende Prüfung.

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