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EMtaz: Klassenunterschiede in ParisAsche und Elend

Das 16. Arrondissement und der Pariser Vorort St.-Denis könnten unterschiedlicher kaum sein. Ein Spaziergang von EM-Stadion zu EM-Stadion.

In St. Denis brannten 2005 Autos, kurz vor der EM brannte es wegen der Arbeistmarktreform auch auf dem Place de la Republique, mitten in Paris Foto: dpa

„Passen Sie auch hier gut auf sich auf!“ Der junge Beamte der Police Nationale zieht an seiner E-Zigarette. Dann versucht er das 16. Arrondissement, einen der 20 Pariser Bezirke, in Worte zu fassen. „Le seizième“ liegt im Westen der Stadt, grenzt an den Park Bois de Boulogne, beherbergt das Stadion Parc des Princes, und die Rolls-Royce-Dichte – mit Rechtssteuerung – ist bemerkenswert.

Wie überall im Westen von Paris regieren die Konservativen, die Républicains, und Bezirksbürgermeister Claude Goasguen wacht über rund 170.000 Menschen. „Hier gibt es viel Asche und dicke Autos, aber hinter den Kulissen …“, meint der Polizist – „c’est le bordel à Paris en ce moment.“ Dann erteilt der Beamte einem Clochard, der sich in einem Hauseingang neben dem Kommissariat niederlassen will, einen Platzverweis.

Saint-Denis, dort, wo das Stade de France nur fünf Minuten mit dem Zug von der Gare du Nord entfernt liegt. Saint-Denis und das Sechzehnte intra muros Paris könnten auf den ersten Blick unterschiedlicher nicht sein. In Saint-Denis wohnen über 100.000 Menschen aus 190 Nationen, die als Gesamtgruppe zurzeit in den meisten Medien pauschal unter dem Verdacht der Unterwanderung durch Islamisten stehen. Rund jeder vierte Einwohner lebt unter der Armutsgrenze, die Arbeitslosigkeit liegt bei rund 25, der Anteil der Sozialwohnungen bei etwa 50 Prozent. Ganz nah an der Hauptstadt, kann man in Saint-Denis noch relativ günstig mieten und kaufen.

„C’est mort, mort, mort“

Im Sechzehnten, das sich vom Arc de Triomphe bis zum Fußballstadion Parc des Princes erstreckt, liegt der Durchschnittsquadratmeterpreis für eine Wohnung bei 7.500 Euro aufwärts, mindestens doppelt so hoch wie in Saint-Denis. Hier ist vieles Luxus pur und es gibt überproportional viele „Français de souche“, weiße Franzosen, und viele asiatische Hausangestellte, die allerliebst gekleidete Sprößlinge spazieren fahren. Ältere Damen im Staubmantel führen gefühlt ewig ihren Schoßhund Gassi und im „Le Grand Bistro“ gibt es die große Fischschlachteplatte zu 150, mit Champagner für 300 Euro. Die Fischplatte im Carrefour von Saint-Denis kostet dagegen 19 Euro, Erfrischungstuch inbegriffen.

Auf dem Weg zum Stadion Parc des Princes liegt an der Avenue Mozart einer der seltenen ranzigen Imbisse des Viertels. In der Bar Le Jasmin gibt es „Mix Radical“, zwei Steaks und Cordon Bleu, für 8,40 Euro. Hinter dem Tresen steht Daniela, eine muntere Italienerin im engen, flamingofarbenen Spitzenkleid. „C’est mort, mort, mort“, ruft sie, tot das Viertel zurzeit, der Hund liegt hier begraben. Viele Menschen hätten wegen der Attentate Angst, in Cafés zu sitzen, „nein, das ist nicht die Atmo von der EM 2012 oder der WM 2014, nein, da war meine Bude immer voll“. Draußen trottet ein graumelierter Königspudel vorbei, eine Dame mit Seidenschal und Hortensien im Arm folgt ihm. Daniela zapft einem sehr Betrunkenen noch ein Bier.

Am Stadion, das in eine Duftwolke von Lindenblüten eingehüllt ist und aussieht wie eine schlechte Minibetonkopie der Oper von Sydney, dort am Parc des Princes und neben dem viel schickeren Rugbystadion, schiebt derweil Dapo aus Benin Wache. Er ist von einem privaten Sicherheitsdienst angestellt, „wir verdienen während der EM zwischen 150 und 200 Euro pro Achtstundentag, das ist nicht übel für Pariser Verhältnisse.“ Dapo ist Maschinenbaustudent, „und die Sicherheitsüberprüfungen waren nicht so hart für uns, wie ich dachte“. Die österreichischen Fans, die seien in Ordnung gewesen, Mozartkugeln hätte er gekriegt – „zwei Flaschen Älmdüdler musste ich leider konfiszieren.“

Die Wurst der heiligen Johanna

Um die Ecke vom Stadion legt gerade Nils Tharandt-Ortiz kurz vor dem Frankreich-Schweiz-Spiel Merguez- und Kalbs­bratwürste auf den Grill der katholischen Kirchengemeinde Sainte-Jeanne de Chantal. Der Telekommunikationsunternehmer, Anfang 40 und mit deutschschweizerischen Eltern, trägt ein rotweißes Schweiz-Leibchen und er steht unter einem weißen Partyzelt mit der Aufschrift „La saucisse de Sainte Jeanne“ – die Wurst der heiligen Johanna. „Mit dem Verkauf kriegen wir ein bisschen Kohle für die Gemeinde rein, seit 2008 wird auch hier im wohlhabenden Sechzehnten immer weniger gespendet.“

In Frankreich gibt es keine Kirchensteuer, und in Paris werden laut Nils nur die vor 1935 erbauten Kirchen von der Stadt unterstützt. Die Toiletten im Gemeindezentrum sind bescheiden, mancherorts fällt der Putz herunter. Nils hält nicht viel vom Geschäftssinn der französischen katholischen Kirche – „die wirtschaften nicht so clever wie in Deutschland“. Hier sei alles Eigeninitiative der Gemeinden.

In der kirchlichen Fanzone wird jetzt auf dem Großbildschirm im vollbesetzten Mehrzweckraum die Nationalhymne zu Spielbeginn gegeben. Vorher hatte Priester Julien noch die Notausgänge im Gebäude erklärt. Kinder wie Erwachsene erheben sich zur Hymne, singen euphorisch: „Allons enfants de la Patrie …“ Der alternative Titel für die Marseillaise lautet: „Kriegslied für die Rheinarmee“.

Eine Spezialeinheit erschoss hier die Attentäter

Französische Fahnen auch in Saint-Denis – die dortige, großzügige Fußgängerzone in der Rue de la République ist allerdings international geflaggt. Magic Afro heißen die Läden hier, Golden Miss – oder Tati, eine Art französischer Woolworth, wo Billigkleidung gleich waschkörbeweise gekauft wird. Ein paar Häuser weiter und gegenüber der Post steht Tamer an der Ecke Rue du Corbillon und verkauft für sechs Euro das Stück eine knallige Popversion der Dschallabija, eines bodenlangen Gewands. „Ganz recht, meine Dame“, ruft der aus Ägypten stammende, „ganz recht, dort hinter mir liegt das Maison Star! Hier haben die Bullen nach dem Attentat im November zugeschlagen!“

Fast alle Fenster in dem dreistöckigen, schlichten Haus sind mit Holzbrettern vernagelt, hier wohnt keiner mehr, seit es von französischen Spezialeinheiten verwüstet wurde. Sie erschossen dort Abdelhamid Abaaoud, den Drahtzieher der Attentate vom 13. November, und seine Cousine Hasna Ait Boulahcen. Nur ein Bruchteil der restlichen Bewohner hat bis jetzt von der Gemeinde eine Ersatzwohnung bekommen. Die anderen logieren in Hotels, man hat sich zu einer Protestgruppe gegen fehlende staatliche Hilfe zusammengetan.

Tamer schickt einen in die nahe Rue de la Boulangerie zur Moschee Tawhid. „Da finden Sie einige Fundamentalisten. Die sind nur eine kleine Gruppe, aber das reicht! Sie schüchtern die eigentlich friedliche Gemeinde ein und terrorisieren sie.“

„Nuit debout ist nicht so mein Ding“

Deren Gebetsräume liegen in einem Rückgebäude, nur ein paar hundert Meter entfernt von der beeindruckenden gotischen Kathedrale von Saint-Denis. Freitags beten bis zu 3.000 Menschen in der Rue de la Boulangerie, Hunderte Männer rollen dann ihre Gebetsteppiche auf dem Asphalt aus, die Moschee ist viel zu eng. In ihrem Einkaufsladen kostet ein kleines Wasser „Zam Zam“ drei Euro. „Das ist Eau Sacrée direkt aus Mekka“, sagt der freundliche junge Mann hinter der Kasse und dann sagt er nichts mehr.

Wir gehen ins Café Au Pavillon, Tipp von Richard Musat, einem älteren kommunistischen Parteimitglied. Immer sonntags verteilt er in der dann besonders wuseligen Fußgängerzone Flugblätter. „Donnerstag ist die nächste Großdemo an der Bastille gegen das Arbeitsgesetz – für mich als alten Militanten ist das die richtige Plattform. Nuit debout ist nicht so mein Ding – zu viel Rumdiskuterei.“

Vor dem Café sitzen zwei „Bobos“, wie im Französischen halbwegs wohlhabende Lifestyle-Achiever genannt werden – in diesem Fall sind es zwei Hutträger mit jeweils einer sehr hässlichen Brille. Richard hatte schon gewarnt – „das ist einer der ganz wenigen boboangehauchten Treffs in Saint-Denis.“ Aber das Bier sei super: „Superbock!“

170 Delikte pro 1.000 Einwohner

Weiter, entlang schmucker Backsteinhäuser und verwunschener Innenhöfe, weiter entlang heruntergekommener Fassaden, weiter Richtung des Bahnhofs von Saint-Denis. Dort in der Nähe sitzen Anne Slacik und ihr Mann auf einer Bank und passen auf ihr Enkelkind auf, das im Kinderwagen schläft. Seit 30 Jahren sind die beiden in der Stadt, damals gab es hier noch bretonische Einwanderer, viele Spanier und Portugiesen. „Eigentlich klappt das Zusammenleben gut, Idio­ten gibt es überall und Klischees über Saint-Denis auch“, findet Anne, die Malerin ist. Ja, das mit der Schule sei ein Problem, ihre drei Kinder haben sie nach der Grundschule auf ein Lycée in Paris geschickt. Andere Eltern, darunter viele Muslime, würden sich in Saint-Denis für meist katholische Privatschulen entscheiden. Und, ja, das mit der höchsten Kriminalitätsrate in Frankreich stimme wohl, fast 170 Delikte pro 1.000 Einwohner zählen Polizei und Justiz.

Aber es gebe hier eben auch viel bürgerschaftliches Engagement, hochkarätige Kultur und Didier Paillard – den kommunistischen Bürgermeister von Saint-Denis. „Der schiebt der echten Gentrifizierung bis jetzt erfolgreich den Riegel vor. Was für manche Kreative in Bezug auf den Umsatz weniger gut ist“, sagt Anne und lächelt charmant. Paillard, dem von Konservativen vorgeworfen wird, das Problem der Radikalisierung muslimischer Gruppen in Saint-Denis zu verharmlosen, wehrt sich im Übrigen regelmäßig in französischen Zeitungen dagegen. „Wir als Gemeinde haben keine echte Handhabe gegen Fundamentalisten, wir geben der Polizei immer wieder Hinweise, aber wir bekommen von ihr keine Rückmeldung.“ Anne und ihr Mann verabschieden sich.

Draußen schläft das Kind von Stephanie. Die Roma-Frau sitzt vor einem Camp ihrer Landsleute ganz in der Nähe. Das behelfsmäßige Lager, mit ärmlichen Hütten aus Wellblech, Pappe und Sperrholz, existiert bereits seit über zehn Jahren, rund 250 Menschen, unter ihnen viele Kinder, leben dort. „Bis spätestens Ende Juli müssen wir definitiv raus. Dann wird das Lager abgerissen.“ Wo sie hingehen wird? „Keine Ahnung, von der Stadt gibt es kein Angebot an uns. Wir werden wohl wieder reisen“, meint Stephanie und legt eine Decke auf ihr Baby.

Um die Ecke des Roma-Camps steht am Ufer des Seine-Kanals das 6b. Heute ist in dem ehemaligen Bürohaus, das Künstlern Ateliers bietet auf 7.000 Quadratmetern und für 11 Euro warm pro qm, was für Paris schlicht das Gegenteil von Wucher ist, heute ist dort ein Festival der Digitalkunst. Es gibt einen kleinen Strand, es gibt DJs. Wenn nicht das Bier so teuer wäre, EM-Preise sind das, aber wenigstens stammt der Gerstensaft aus einer jungen Pariser Brauerei.

Die wenigsten der Besucher, die gerade Schlange beim 6b für ein Ticket stehen, kommen aus Saint-Denis oder dem Umland, meint Delphine Naissant, die das Zentrum koordiniert. „Auch wenn das hier ein Uni-Ort mit 30.000 Studenten ist – die meisten sind nur tagsüber in Saint-Denis. Oder mal wie heute zum Durchfeiern und Durchtanzen.“ Aus dem 16. Arrondissement? Ja, da seien auch viele „rich kids“ dabei. Auf dem Rückweg zum Bahnhof drängt sich ein Graffiti auf. „Saint-Denis – Fluctuat nec mergitur“ steht da in riesigen Lettern. „Sie schwankt, aber sie sinkt nicht.“ Frech geklaut – das Motto von Paris.

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