: Vorwärts auf Los
Neues Leben In ihrem Buch „Unorthodox“ schildert Deborah Feldman ihr Leben in einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft in New York. Feldman schaffte den Ausstieg – und lebt in Berlin
von Carola Ebeling
„Babymäuse sind so rosa, ohne Fell – ich kann das Bild nicht vergessen. So war ich auch: ohne Schutz, sehr verletzlich, sehr zerbrechlich. Eine Person ohne Haut“, sagt Deborah Feldman. Leise, doch präzise kommen die Worte. Bis zum Alter von 23 Jahren hat sie in einer ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft, die Satmarer, in New York gelebt. Ein Leben voller strenger religiöser Vorschriften. Eng und unfrei. Aber sicher. Während die gemiedene Welt draußen fremd und bedrohlich erscheinen musste.
Als Feldman 2009 dennoch den Schritt von der einen in die andere Welt vollzog, war sie für lange Zeit diese ungeschützte Person, die „eine neue Haut“ erst bilden musste. Alles Vertraute war unwiderruflich verloren, das Unbekannte noch nicht erkundet.
In den Jahren seither ist viel passiert. Heute wohnt Deborah Feldman in Berlin, 2014 ist sie mit ihrem jetzt zehnjährigen Sohn hergezogen. Zwei große helle Zimmer in einer Altbauwohnung, durch die sie die Besucherin unbefangen und auf Socken in die Küche führt. Im Ofen steht ein fast fertiger Kuchen, ein neues Rezept.
Das Bild von den winzigen Mäusen kommt auch in ihrem Buch „Unorthodox“ vor. In dem dieses Frühjahr auch auf Deutsch erschienenen Bestseller erzählt die heute 29-Jährige von ihrer Kindheit und Jugend, ihrem Leben als Ehefrau und Mutter bei den Satmarern. Die Gemeinschaft hat sich nach dem Zweiten Weltkrieg gegründet, ihre etwa 120.000 Mitglieder deuten den Holocaust als eine Strafe Gottes für die Assimilation der Juden. Als Konsequenz führen sie ein extrem abgeschottetes Leben, ihre Regeln gelten als die strengsten einer ultraorthodoxen jüdischen Gruppe. Es ist ein zutiefst patriarchales System. Deborah Feldman hinterfragte es früh, zerbrach fast daran und fand doch die Kraft auszubrechen.
Ein guter Ort
In der Berliner Küche wird serviert: „Mandel-Polenta-Kuchen, schon ein bisschen unorthodox“, sagt die Gastgeberin lachend. Williamsburg, jenes New Yorker Viertel, in dem die chassidische Gemeinschaft lebt, scheint in diesem Moment weit weg. Berlin sei ein guter Ort für sie, erzählt Deborah Feldman lebhaft. Nur hier passierten Dinge wie die zufällige Begegnung mit ihrem deutschen Verleger Christian Ruzicska in einem Neuköllner Café. Daraus erwuchsen eine fruchtbare Zusammenarbeit und eine Freundschaft.
Dieses gegenwärtige Gesicht der Stadt zähle für sie. Sie hat ein zweites Buch geschrieben, arbeitet an einem dritten, außerdem an einem Dokumentarfilm. Mit ihrem Freund und seinen zwei Kindern verbringt sie viel Zeit, aber: „Eine unabhängige Person werde ich immer sein, ich kann nicht wieder heiraten, das geht nicht.“ In der Betonung des Gesagten schwingt die erfahrene Unfreiheit mit. Die Vergangenheit ist fern und zugleich auf vielfache Weise präsent in ihrem gegenwärtigen Leben.
Diese Gegenwart ist hart errungen. Ein Grund, warum sie ihr Buch geschrieben hat, war der Wunsch, verstanden zu werden. In der „neuen Welt“ habe sie „in den Augen jeder Person, der ich begegnet bin, komplette Verwirrung gesehen. Sie konnten mich in keinen Zusammenhang stellen. Dadurch habe ich mich sehr einsam gefühlt.“
„Unorthodox“ ist in einem unaufgeregten Ton geschrieben, selbst wenn es um erschütternde Begebenheiten geht, wozu die Erfahrungen in ihrer Ehe zählen. „Ich wollte nicht, dass die Leute mein Buch lesen und denken, oh, ich halt’s nicht mehr aus. Ich wollte, dass sie mit mir dabei sein können“, sagt sie mit Nachdruck. Das ist ihr gelungen. Die gewählte Gegenwartsform holt die LeserInnen dicht heran an das Mädchen, die junge Frau, die sie war. Die klare, manchmal fast sachlich anmutende Sprache erlaubt aber auch einen gewissen Abstand.
Nicht zuletzt ihrem Buch hat sie es außerdem zu verdanken, dass ihr Sohn bei ihr lebt. Die gesetzliche Lage bezüglich des Sorgerechts ist sehr schwierig für die Frauen der Gemeinschaft. „Unorthodox“ wurde in den USA zu einem Erfolg und verschaffte ihr Öffentlichkeit, die hilfreich in der harten Auseinandersetzung war. „Es ist ein unglaubliches Glück, dass ich meinen Sohn behalten konnte, ein Wunder. Niemand hat das zuvor geschafft.“
Der Neubeginn war auch deshalb so schwer, weil der Bruch mit der Gemeinschaft so absolut und brutal ist. „Es gibt keine Brücke“, sagt Feldman. „Wenn man geht, gibt es keinen Rückweg.“
Für die Gemeinschaft ist sie gestorben, und das im Wortsinne. Sie hat viele böse Briefe bekommen, auf Websites und Twitter hat man Gerüchte verbreitet, sie habe sich umgebracht. „Das ist psychologisch so mächtig. Wenn die Leute schon über dich reden, als ob du tot wärst, dann fühlst du dich schon halb tot. Wenn du weißt, es gibt Leute, die brennen dafür, dass du tot bist – das nimmst du selber an, das wird ein Teil von dir. Da wird ein Teil von dir dein Feind.“ Die Stimmung in der Küche ist jetzt schwer, das kann selbst die weite Entfernung zwischen Berlin und New York nicht verhindern. Und über diese Distanz erreichen sie auch immer wieder Nachrichten über andere „AussteigerInnen“, die tatsächlich Selbstmord begangen haben, Frauen und Männer, von denen sie manche kannte. Und denen es nicht gelungen ist, in der anderen Welt anzukommen.
In einem Artikel für die Jüdische Allgemeine hat sie darüber geschrieben. „Der Körper der Ex-Charedim ist eine Art gemeinsamer Körper“, heißt es da. In den Zeilen scheint eine unsichtbare Verbindung derer auf, die die Gemeinschaft verlassen haben; eine Durchlässigkeit der Autorin für ihr gleichsam gemeinsames Ringen – und das drohende Scheitern. „Wir haben ja alle die gleiche Erziehung“, erklärt sie. „Wir wurden alle gewarnt, dass, wenn wir was falsch machen, wenn wir aus der Reihe tanzen, dass es uns sehr schlecht gehen wird; dass Gott uns bestrafen wird. Dass die Außenwelt uns ablehnen wird. Dass wir keine Chance haben außerhalb der Gemeinschaft. Man kann sich davon nicht wirklich lösen.“
Das führt zu Momenten, in denen sie fürchtet, dass auch sie scheitern müsse. Dann kann sie ihrer eigenen Wahrnehmung, sie könne es schaffen, nicht mehr trauen. „Gemeinsamer Körper bedeutet, dass jedes Mal, wenn jemand über eine Klippe springt, ein Teil von dir mit dieser Person mitgeht.“ Diese schwarzen Momente werden aber seltener. Ihr Sohn wirke dabei wie ein Magnet, er bringe sie zurück zur Mitte.
Deborah Feldman
Und dann gibt es für Deborah Feldman außerdem doch so etwas wie eine verborgene Brücke, zu ihrer Großmutter, einer Holocaust-Überlebenden. Feldman wuchs bei ihren Großeltern auf. In ihrem Buch schreibt sie respektvoll über den Großvater, liebevoll über die „Bubbe“, die Einzige, „für die ich ein Mensch mit einem Geist war“. Sie hat sich auf die Spuren nach ihrem Leben vor dem Krieg, vor ihrer Identität als Angehörige der Satmarer, begeben: „Ich dachte, so könnte ich meine abgeschnittenen Wurzeln mit ihren alten Wurzeln verbinden, sodass daraus etwas Neues erwächst.“ Ihr zweites Buch „Exodus“ handelt von dieser Spurensuche, die dazu beigetragen hat, dass sie die Zuversicht habe, sich in Berlin „wieder ein Leben aufzubauen“. Ironischerweise fühle sie sich hier, in Europa, ihrer Großmutter viel näher.
Verbindungen schaffen
Für Deborah Feldman bedeutet ihr Schreiben mehr, als von ihrer eigenen Emanzipationsgeschichte zu erzählen. „'Unorthodox’ ermöglicht auch einen Einblick in Strukturen, wie sie auch in anderen fundamentalistischen religiösen Gemeinschaften herrschen“, betont sie. Seien sie im Islam, im Christentum oder in einer anderen Religion verankert. Wieder benutzt sie das Bild der Brücken: Vehement tritt sie dafür ein, dass Verbindungen geschaffen werden müssen zwischen solchen Glaubensgemeinschaften und der säkularen Welt. „Dann kann man hin- und hergehen“, Bedingung dafür, zu verhindern, dass Frauen, die mit ihrem Leben nicht einverstanden sind, ohne Stimme bleiben, „mitten unter uns“.
Diese leidenschaftliche Entschlossenheit ist ganz Teil ihrer Gegenwart und zugleich gespeist von der eigenen Geschichte. In ihrem Dokumentarfilm wird es um Frauen weltweit gehen, die innerhalb extremer Glaubensgemeinschaften dafür kämpfen, Dinge zu verändern. „Das finde ich sehr wichtig und sehr mutig“, sagt Feldman.
Innerhalb ihrer Gemeinschaft sei das leider nicht möglich. Bislang gibt es hier keine Brücken. Man muss sich immer noch entscheiden: ganz drinnen oder ganz draußen, so wie sie damals. Deshalb gehören die 23 Jahre ihres Lebens dort zu einer Person, die sie nicht mehr ist.
Aber sie hat sich eigene Wurzeln geschaffen. Und es ist ihr eine neue Haut gewachsen.
Deborah Feldman: „Unorthodox“. Aus dem amerikanischen Englisch von Christian Ruzicska, Secession Verlag, Zürich, 320 Seiten, 22 Euro.
Am 7. Juli liest Feldman in Potsdam in der Buchhandlung Viktoriagarten, Geschwister-Scholl-Str. 10, um 20 Uhr aus „Unorthodox“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen