: Wenn die Oma die Mutter ersetzen muss
FAMILIENRECHT 70.000 Minderjährige wachsen hierzulande nicht bei ihren Eltern, sondern bei Verwandten auf. Diese scheuen aber oft den Gang zum Jugendamt
VON Joachim Göres
Seit sie zwei Jahre alt war, hat Nadine bei ihrer Oma gelebt. Ihre drogenabhängige Mutter „konnte sich um sie nicht so kümmern, wie es nötig gewesen wäre. Es war für mich klar, dass ich einspringe. Denn sonst wäre nur das Heim geblieben.“
Wenn die heute 73 Jahre alte Monika Mäurer erzählt, dann kommen bei ihr Wut und Trauer hoch – über die Tochter, die sich zwischenzeitlich aus dem Staub machte, über den Schwiegersohn, der an Drogen starb. Doch die positiven Gefühle überwiegen, wegen des bis heute guten und engen Verhältnisses zur inzwischen 25-jährigen Nadine. „Sie war immer ein fleißiges und fröhliches Kind, unser Zusammenleben hat wunderbar geklappt. Wenn man etwas älter ist, dann hat man mehr Zeit und ist ausgeglichener, das kommt der Erziehung zugute“, sagt Mäurer.
Rund 70.000 Kinder und Jugendliche in Deutschland werden von Verwandten und nicht von ihren Eltern großgezogen. Vor allem psychische Erkrankungen führen dazu, dass die Eltern sich nicht mehr um ihren Nachwuchs kümmern können, gefolgt von der Drogen- und Alkoholabhängigkeit sowie der Überforderung von Alleinerziehenden. Nicht selten haben betroffene Kinder ihren leiblichen Vater nie gesehen.
Die Verwandtenpflege ist hierzulande verbreiteter als die Heimerziehung (66.000 Minderjährige) und die Unterbringung in Pflegefamilien (52.000 Minderjährige). Großeltern stellen rund 70 Prozent der erziehenden Verwandten, etwa 20 Prozent der betroffenen Kinder wachsen bei Onkeln und Tanten auf, fünf Prozent bei den eigenen volljährigen Geschwistern. Die Zahlen wurden Ende vergangenen Jahres auf der Jahrestagung der Bundeskonferenz für Erziehungsberatung in Hannover genannt.
„Wenn die leiblichen Eltern nicht mehr in der Lage sind, ihre Kinder zu erziehen, dann wollen sie in der Regel selbst bei schwierigen Familienbeziehungen, dass ein Verwandter sich um die Kinder kümmert. Die Jugendämter sind heute offener für solch eine Lösung, denn die Kommunen sparen gegenüber einer Heimunterbringung Geld. Die Verwandtenpflege nimmt zu“, sagt der Paar- und Familientherapeut Thomas Gerling-Nörenberg, der seit mehr als 20 Jahren erziehende Großeltern betreut und einen Workshop zum Thema in Hannover leitete.
Rixta Buschmann arbeitet beim Pflegekinderdienst der Stadt Celle. Die Sozialarbeiterin betreut mit zwei Kolleginnen derzeit 75 Minderjährige, die bei Pflegefamilien aufwachsen. Knapp 20 Prozent davon leben bei ihren Großeltern, zehn Prozent bei Onkeln oder Tanten. Sie müssen in ihre neue Rolle erst hineinwachsen. „Eine Oma darf ihr Enkelkind verwöhnen, in der Elternrolle muss sie plötzlich auch Regeln durchsetzen. Es kann als Verantwortlicher für das Enkelkind auch zu Konflikten mit dem eigenen Kind kommen und die Großeltern müssen sich entscheiden“, sagt Buschmann.
Sie muss beurteilen, ob die Großeltern, die zu ihr kommen und offiziell eine Vollzeitpflege übernehmen wollen, dafür geeignet sind. Dazu werden unter anderem die Wohnverhältnisse überprüft, es wird über die pädagogischen Vorstellungen gesprochen und erkundet, ob Oma und Opa mit dem Jugendamt zusammenarbeiten wollen. „Die Kinder haben belastende Erfahrungen gemacht und deshalb oft einen erhöhten Förderbedarf. Wir stellen Hilfepläne auf und darüber gibt es jedes halbe Jahr Gespräche. Dazu müssen die Großeltern bereit sein“, sagt Buschmann. Alle zwei Jahre überprüfen die Familiengerichte bei einer genehmigten Vollzeitpflege, ob die leiblichen Eltern wieder in der Lage sind, sich um ihren Nachwuchs zu kümmern.
Oft bleiben Gerichte und Ämter allerdings außen vor: Verwandte bis zum dritten Grad müssen das Jugendamt nicht um Erlaubnis fragen, wenn sie Kinder aus der Familie bei sich aufnehmen und die Eltern zustimmen – so steht es im Sozialgesetzbuch. Nur wenn die leiblichen Eltern sterben, wird die Behörde automatisch eingeschaltet.
Laut Gerling-Nörenberg scheuen Großeltern häufig den Gang zum Jugendamt – aus Angst, dass sie als geeignete Pflegeeltern abgelehnt werden könnten. Dafür verzichtet fast die Hälfte der erziehenden Verwandten auf monatlich mindestens 250 Euro Erziehungsgeld pro Kind. In einer Empfehlung des Deutschen Vereins für öffentliche und private Fürsorge von 2014 werden die noch zum Teil bestehenden Vorbehalte von Jugendämtern gegenüber der Verwandtenpflege aufgegriffen: „Allgemeine Zweifel hinsichtlich der Eignung von Verwandten oder der Familie Nahestehenden als Pflegeperson sind jedoch nicht angebracht. Sie haben sich empirisch nicht bestätigt.“
Die Erfahrungen von Gerling-Nörenberg gehen in die gleiche Richtung: „Die meisten Großeltern fühlen sich moralisch verpflichtet, ihr Enkelkind bei sich aufzunehmen – damit es im vertrauten Umfeld bleiben kann. Abbrüche der Vollzeitpflege durch überforderte Großeltern gibt es nur sehr selten. Fast alle sagen, dass sie es wieder machen würden.“
Auch Monika Mäurer hat ihre Entscheidung nie bereut, für die Enkeltochter die Mutterrolle zu übernehmen. „Man musste Freunden für Unternehmungen absagen, als Nadine noch klein war. Aber das hat mich nicht gestört, denn sie war immer das A und O für mich.“
Das Forschungsprojekt Verwandtenpflege der Uni Bremen hat einen Ratgeber erarbeitet, der unter anderem über rechtliche, finanzielle und pädagogische Fragen rund um das Thema informiert. Er findet sich auf der Seite www.jugendamt.nuernberg.de unter Vollzeitpflege zum Nachlesen.
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