Erinnerungskultur in Österreich: Mein Nachbar, der Hitler
Was tun mit dem Geburtshaus des „Führers“? In Braunau sucht man darauf eine Antwort.
In Simbach am Inn waren die Regenfälle der letzten Wochen schlimm. Das Foto der braunen Fluten, die dort die Hauptstraße hinunterstürzten, war in allen Nachrichten. Nur wenige hundert Meter von Simbach entfernt, auf der anderen Seite des Inn, liegt die österreichische Schwesterstadt Braunau. Hier haben die Unwetter kaum Schaden angerichtet. Aber über Braunau hängt eine eigene dunkle Wolke – seit mehr als 70 Jahren. Sie hängt über dem leer stehenden Haus mit der Nummer 15 in der Straße, die Salzburger Vorstadt heißt.
Drei Stockwerke hat das Haus, siebzehn Sprossenfenster zur Straße, die unteren fünf vergittert. Die Wand ist ocker, abgesetzt mit Weiß. Hier wurde am 20. April 1889 Adolf Hitler geboren. Kaum ein Braunauer, der sich nicht schon anhören musste, aus dem „Geburtsort des Bösen“ zu kommen.
Andreas Maislinger ist nicht aus Braunau, aber der 61 Jahre alte Politologe beschäftigt sich seit Jahrzehnten damit, wie die Stadt und das Hitlerhaus in der Welt gesehen werden. Er hört sich an, was Bürger damit tun wollen, er hat Exnazis befragen lassen, mit welchen Gefühlen sie den Ort besuchen. Und er ist bereit, immer wieder aus Innsbruck anzureisen, wenn sich jemand für das Haus interessiert. Manche in Braunau können sein Engagement nicht leiden. Aus dem lokalen Geschichtsverein hat man ihn ausgeschlossen. Sein Wissen zu der Sache aber stellt keiner infrage.
„Das Drama von Braunau ist, dass es so klein ist“, sagt Maislinger. Nürnberg etwa habe eine weit schlimmere Vergangenheit als der 17.000-Einwohner-Ort. Trotzdem denkt man bei Nürnberg als Erstes an Lebkuchen und Christkindlesmarkt und bei Braunau an Hitler. Maislinger nennt das „ein starkes Branding“. Man kennt die Stadt in Indien, in Amerika. Wenn das Haus im Starkregen untergegangen wäre, hätte das nicht nur in der Braunauer Warte gestanden, sondern auch in der New York Times.
Dabei ist es nicht so, dass Braunau von Neonazis überrannt würde. Zu Hitlers hundertstem Geburtstag kamen ein paar Dutzend, abgeschirmt von Polizisten und beobachtet von Journalisten aus aller Welt. „Braunau ist eher eine Chiffre als ein Pilgerort“, sagt Maislinger. Eher hänge sich ein Nazi ein Ortsschild „Braunau“ zu Hause auf, als seinen Urlaub hier zu verbringen.
An die Wand pinkeln
Dass unklar ist, wie man mit dem Haus umgehen soll, merkt man an den Touristen. Es ist eine Sehenswürdigkeit – aber was für eine? Was besuchen die Leute da? Es ist kein KZ, kein Führerbunker. Hier wurden keine Verbrechen geplant und keine ausgeführt. „Hier wurde ein Kind geboren“, sagt Maislinger.
Bis zu fünfzig Leute kämen am Tag zu dem Haus, schätzt der Kellner der Eisdiele nebenan. Manche fragen verschämt, wo es ist, und gucken nur von Weitem. Sie sind unsicher: Darf man es fotografieren? Ist ein Selfie okay? Manche kratzen etwas von der Fassadenfarbe ab als Souvenir. Manche posieren stolz, andere pinkeln nachts gegen die Wand. Maislinger glaubt deswegen, dass es nicht reicht, wenn das Haus leer steht; eine Leerstelle kann jeder selbst füllen. Das Haus brauche eine bewusste Nutzung, sagt er. Die hat es nie gegeben, aber das könnte sich nun ändern.
Im April hat das österreichische Innenministerium angekündigt, ein Gesetz auf den Weg zu bringen, um die Besitzerin des Hauses zu enteignen. Um die „besondere Aura“ des Ortes zu entmystifizieren, wie es in der Erläuterung heißt, und um zu verhindern, dass das Haus in falsche Hände gerät.
Andreas Maislinger
Das wirft Fragen auf: Darf man jemanden enteignen, bloß weil Hitler in seinem Haus geboren wurde? Was macht man danach damit? Und welche Hände wären die richtigen?
In Österreich wird die Enteignung breit diskutiert: Darf man, darf man nicht? Dabei gilt sie als beschlossen. Sie ist die Ultima Ratio des Ministeriums – das Ende einer verworrenen Beziehung der Republik Österreich zu der Hausbesitzerin Gerlinde Pommer-Angloher.
Zwielichtige Angebote
In den Siebzigern hatte sie sich selbst an das Innenministerium gewandt, weil sie bei der Suche nach einem Mieter zwielichtige Angebote aus dem Ausland erhalten hatte. Von da an mietete die Republik das Haus, um bestimmen zu können, wer einzieht. Als Ende der Achtziger dann eine Plakette am Haus angebracht werden sollte, verhinderte Pommer-Angloher das aber per Gerichtsbeschluss. Später weigerte sie sich, Umbauten zuzustimmen, worauf der damalige Untermieter, die Behinderteneinrichtung „Lebenshilfe“, 2011 auszog. 2014 sagte Pommer-Angloher, sie wolle das Haus verkaufen, mehrere Kaufanfragen des Ministeriums ließ sie jedoch unbeantwortet.
Gerne würde man die Geschichte von ihr selbst hören. Aber die Frau, die jeden Monat 4.800 Euro Miete vom österreichischen Staat erhält, ist nicht zu erreichen. Als Rentnerin wohnt sie eigentlich in Braunau, unweit des Hauses, laut Bekannten ist sie aber in Simbach bei ihrem Lebensgefährten und hält sich oft in Wien und München auf. Weder die Reporter der Lokalzeitungen noch der Bürgermeister oder sonst jemand, der sich für das Haus engagiert, hat sie je persönlich gesprochen. Bisweilen kommen auch Einschreiben an sie ungeöffnet zurück.
Wie es weitergeht, wenn das Ministerium die Entscheidungsgewalt über das Haus hat, ist unklar. Andere Beispiele in der Geschichte, wie mit Geburtsstätten von Diktatoren umgeht, gibt es kaum. In Gori in Georgien plant man, für Stalin eine einst abgerissene Statue neu aufzustellen, in der Stadt Predappio verdienen Straßenhändler gut am Mussolini-Tourismus. In Braunau setzt man Stolpersteine, singt jeden Mai zum Gedenken ans Kriegsende vor dem Hitlerhaus Lieder von Bertolt Brecht und hat statt der vereitelten Plakette einen Stein aus dem KZ Mauthausen vor das Haus gestellt: „Für Frieden Freiheit und Demokratie / Nie wieder Faschismus / Millionen Tote mahnen“. Hitler hat man die Ehrenbürgerschaft aberkannt – vorsorglich, denn auch nach langer Suche in den Archiven fand man keine Beweise dafür, dass er sie überhaupt je bekam. „Dass Hitler hier geboren ist, ist ein historisches Faktum“, sagt der Bürgermeister Johannes Waidbacher, „aber wir haben gelernt, damit zu leben.“ Die Wolke stört ihn nicht, solange es nicht aus ihr regnet.
Maislinger aber glaubt, dass man sie sogar vertreiben kann: mit einem „Haus der Verantwortung“– so sein Vorschlag. Dort sollen sich Jugendliche aus aller Welt begegnen. Sie sollen über die Geschichte ihrer Länder reden, über Gegenwart, Zukunft. Ausgewählt in einem Friedensdienstprogramm, und zwar danach, ob sie bereit sind, „nicht nur mit den Finger auf andere zu zeigen, sondern auch ihre eigene Geschichte aufzuarbeiten“.
„Haus der Verantwortung“
Ein „Haus der Verantwortung“ wäre immer noch Hitlers Geburtshaus, sagt Maislinger, „aber nicht mehr das ‚Hitlerhaus‘ “. Es entstünde ein neues Branding. Weltweit hat er schon Unterstützer für seine Idee, von Konstantin Wecker, Reinhold Messner bis zu KZ-Überlebenden. Es könnte klappen, meint er, denn die negative Berühmtheit Braunaus könnte auch das „Haus der Verantwortung“ berühmt machen. „Wenn die Besitzerin enteignet wird, wird die ganze Welt darüber berichten.“
Doch Unterstützer hin oder her, am Ende wird die Entscheidung vom Innenministerium getroffen. Dort hat man eine Historikerkommission einberufen, die Nutzungsvorschläge unterbreiten soll. Eine Gedenkstätte sei eine Option. Oder auch ein Abriss. Innenminister Wolfgang Sobotka hatte das vor Kurzem in einem Interview als die „sauberste Lösung“ bezeichnet. Realistisch ist es nicht. Schon deswegen, weil das Haus als Teil des Ensembles Salzburger Vorstadt denkmalgeschützt ist.
Braunau am Inn ist die älteste Stadt im oberösterreichischen Innviertel, 60 Kilometer von Salzburg und 110 Kilometer von München entfernt. Hitler kamt dort am 20. April 1889 in der Salzburger Vorstadt 15 zur Welt.
Das Haus Salzburger Vorstadt 15 steht unter Denkmalschutz. Martin Bormann, Hitlers Stellvertreter, kaufte es der Besitzerfamilie Pommer ab, danach war es Kulturzentrum der NSDAP. Nach dem Krieg bekamen es die früheren Besitzer billig zurück.
Das Hitlerhaus steht derzeit leer. Die Besitzerin Gerlinde Pommer-Angloher verweigert sich Planungen, was mit dem Haus geschehen soll. Nun soll sie enteignet werden.
Maislinger hält von Abriss nichts: „Das hieße, die Geschichte zu retuschieren.“ Und außerdem: „Wie würde man den leeren Platz im Volksmund wohl nennen?“, fragt er. „Eben.“
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