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Keine Bulette ohne Migration

STADTGESCHICHTE Stadtführer Tobi Allers erzählt die Entwicklung Berlins als Migrationsgeschichte

„Hier war ich ja noch nie!“, staunt eine Studentin, als Tobi Allers (vorne) die Tour am Engelbecken in Kreuzberg vorbeiführt Foto: Amélie Losier

von Laura Aha

In der trägen Luft des heißen Samstagnachmittags wabert der Geruch von gebratenem Fleisch und Gewürzen, arabische Kinder spielen auf dem Bordstein. Ihr Gelächter vermischt sich mit den Autohupen einer türkischen Hochzeitskolonne, die johlend ihre Runden um den vielbefahrenen Straßenkreisel zieht: das Kottbusser Tor ist zum Aushängeschild des multikulturellen Berlin geworden, in jüngster Zeit besonders wegen der Negativschlagzeilen. Für Stadtführer Tobi Allers ist er eine Erfolgsgeschichte.

Seit drei Jahren bietet der Gründer von „Berlin Kultour“ Führungen zu Themen wie Street Art, Architektur und Stadtentwicklung für unterschiedliche Zielgruppen in Berlin an. Mit seiner aktuellen Tour „Geflüchtete in historischer Perspektive“ betrachtet der 31-jährige Kunsthistoriker die Migra­tionsgeschichte als Motor der Entwicklung der Stadt Berlin.

„Das Thema Migration ist aktuell in aller Munde und wird oft als negative Folge der Globalisierung interpretiert. Dabei ist Einwanderung überhaupt kein neues Phänomen und für die Entwicklung Berlins immer schon zentral gewesen“, eröffnet der schmächtige junge Mann mit Rauschebart und Männerdutt vor der barocken Kulisse des Palais Podewil im Berliner Klosterviertel seine Tour. Das Palais, erbaut von einem hugenottischen Einwanderer, greift Allers als exemplarisch für die erste große Einwanderungswelle Berlins heraus.

Eine alte Neiddebatte

„Ein Drittel der Bevölkerung hatte den Dreißigjährigen Krieg und die Pest nicht überlebt, man brauchte die Zuwanderer als Arbeitskräfte regelrecht“, erklärt er. Er zieht eine historische Stadtkarte aus seinem weißen Turnbeutel, um zu demonstrieren, wie klein das Besiedlungsgebiet des 6.000-Seelen-Dorfs Berlin zu dieser Zeit noch war. Aufgrund ihres Glaubens in Frankreich verfolgt, fanden die Hugenotten, ebenso wie zahlreiche jüdische Familien um 1700 Zuflucht in Berlin durch einen Erlass des „Großen“ Kurfürsten Friedrich Wilhelm. Mit offenen Armen wurden sie auch damals eher weniger empfangen. „Sprachbarrieren, kulturelle Unterschiede und dann bekamen die Hugenotten auch noch Steuervergünstigungen: Anschläge auf die Häuser der Einwanderer waren keine Seltenheit“, zieht Tobi Allers die traurige Parallele zur Jetztzeit.

Der Abwehrmechanismus in der Mehrheitsgesellschaft gegen die „Fremden“ scheint sich wie ein roter Faden durch alle Migrationsgeschichten zu ziehen. Dabei zeigen sich nicht nur in der Architektur Spuren der Einwanderer. „Ohne die Franzosen gäbe es keine Berliner ‚Bulette‘“, veranschaulicht Tobi Allers auch sprachliche Zusammenhänge. Dass gegenseitige Annäherung der Schlüssel zur Integration ist, verdeutlicht er am „House of One“, einem weltweit einzigartigen Bauprojekt, das eine Synagoge, eine christliche Kirche und eine Moschee unter einem Dach beherbergen soll.

Fröhlich plaudernd führt Tobi Allers vom Nikolaiviertel über den Mühlendamm zum Kreuzberger Engelbecken. An einer Laterne prangt ein „Berlin Kultour“-Sticker. „Hier war ich ja noch nie!“, staunt eine Studentin, die bereits seit vier Jahren in Berlin lebt. Tobi Allers gelingt es mit seiner lockeren Art und einem enormen Allgemeinwissen, die Geschichte Berlins für Einheimische und Touristen gleichermaßen spannend neu zu erzählen. Die aufrichtige Begeisterung für sein Fach kauft man ihm dabei in jedem Moment ab.

Die aufrichtige Begeisterung für sein Fach kauft man ihm jeden Moment ab

Lange Tradition

Am Luisenstädtischen Kanal entlang geht es um die mit der Industrialisierung verbundene Einwanderung der Polen, die Vertriebenen nach dem Zweiten Weltkrieg und die Gastarbeiter in den 1960er Jahren. „Deutschland hat eine lange Tradition als Einwanderungsland, auch wenn das manche immer noch nicht wahrhaben wollen“, schlussfolgert Allers am Kottbusser Tor angekommen und schlägt die Brücke in die Gegenwart.

Dass „die deutsche Kultur“ – ein Begriff, den es spätestens nach dieser Stadtführung zu hinterfragen gilt – kein statisches Konstrukt ist, sondern immer im Wandel in begriffen ist, wird an diesem multikulturellen Ort mehr als deutlich. Ein Bewusstsein für diese Zusammenhänge zu wecken und zumindest ein paar Menschen zum Nachdenken anzuregen ist für Tobi Allers – ebenso wie Kreuzberg – ein Erfolg.

Info: www.berlinkultour.de

Termine: Freitag, 24. 6. 2016, 18 Uhr. Samstag, 2. 7. 2016, 15 Uhr. Kosten: 10 €. Vorabregistrierung über Facebook oder per Mail (tobi@berlinkultour.de). Alle Touren auf Anfrage auch in englischer Sprache möglich

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