Medien in Russland: Reality statt Life
Im Mai blüht die russische Lügenindustrie: Belege und Veteranen werden gefakt, Statisten für die Paraden gekauft. Ansonsten ist das Leben heil.
Am Donnerstag twitterte die russische Botschaft in London folgende Meldung: „Die Extremisten haben unweit von Aleppo ein paar Laster mit chemischen Waffen in Besitz genommen“. Als Beleg fungierte ein Screenshot aus dem Spiel „Command & Conquer Generals“ aus dem Jahr 2003. Was nach einem schlechten Witz aussieht, ist im modernen Russland business as usual.
Wer eine Vorstellung vom Ausmaß dreister Lügen in den russischen Medien bekommen will, sei auf diese Seite verwiesen. Der im vergangenen Herbst in Brüssel eigens dafür geschaffene Dienst EU Task Force nimmt sich in den wöchentlichen Reports den jeweils neuen Enthüllungen detailliert an.
Eines der jüngsten Beispiele ist die Verzerrung einer Aussage des Außenministers Italiens während seines Treffens mit dem russischen Vize-Premier Arkadij Dworkowitsch in Rom Mitte April. Russische Nachrichtenagenturen titelten damals: „Paolo Gentiloni fordert die Aufhebung der Sanktionen gegenüber Russland“. In Wirklichkeit hatte der iltalienische Außenminister lediglich gesagt, dass die Entscheidung bezüglich der Sanktionen auf der Grundlage des Minsker Abkommens bei dem EU-Gipfel Ende Juni gefällt wird.
Im Mai blüht die Lügenindustrie à la Russe traditionell zu ihrer Höchstform auf.
Am 9. Mai fand in Moskau im Anschluss an die Militärparade der Marsch „Das unsterbliche Regiment“ statt. Angeführt wurde er vom Präsidenten Wladimir Putin persönlich, der zusammen mit Hunderttausenden Moskauern und Moskauerinnen das Foto seines Vaters bei sich hielt, der an der Front gekämpft und überlebt hat.
Gefakte Veteranen
Im Vorfeld erschienen auf der Webseite www.massowki.ru Anzeigen, die nach Freiwilligen für den Dreh eines Dokumentarfilms namens „Der Sieg. Das unsterbliche Regiment“ für den 9. Mai suchten. „Laut Sujet seid ihr die Teilnehmer des Marsches Das unsterbliche Regiment“, warb die Anzeige. Gesucht wurden also Statisten, die sich als Nachkommen der Kriegsteilnehmer ausgaben. Für Massen-Aufnahmen wurden 800 Rubel angeboten, für Großaufnahmen – und zwar, explizit den Bewerbern mit „schönen geistigen Gesichtern“ – 1.000 Rubel. Tatjana W. und Irina K., die sich auf der Webseite mit Photos und Telefonnummern für 1.000 Rubel-Job beworben haben, antworten auf die taz-Anfrage, dass sie mit dem Dreh nichts zu tun hätten.
Dass an der Siegesparade auf den hohen Tribünen gefakte Kriegsveteranen sitzen, ist in Moskau schon lange ein offenes Geheimnis. Schließlich gibt es nicht mehr so viele lebende, wie gebraucht würden, um die Reihen voll zu kriegen. Die Blogger posten seit Jahren Fotos von „Veteranen“, die nachweislich keine sind. Bei einer und derselben Person tauchen im nächsten Jahr plötzlich neue Auszeichnungen und Dienstgrade auf, die strenge Orden-Rangfolge wird durcheinander gebracht. Die Kriegs-Opas sterben aus, der Bedarf nach Helden und Heiland ist jedoch größer denn je.
Manchmal indes kollidiert die „andere Welt“ (Angela Merkel) von Putin mit der echten ganz schön gewaltig. Das Highlight der Woche in der russischen Blogger-Landschaft war das Foto mit dem verdutztem Gesicht Putins, der einen losgelösten Auto-Griff in der Hand eines Generals anstarrt. Dem russischen Präsidenten wurde am Donnerstag in Sotschi ein neuer Geländewagen des russischen Herstellers UAZ mit dem Namen „Patriot“ präsentiert. Als es Putin nicht gelungen war, die Autotür zu öffnen, sprang ihm ein Mitarbeiter des Verteidigungsministeriums zur Hilfe. Er riss mit solcher Inbrunst, dass der Griff ab ging.
Die prompte Erklärung der Ingenieure lautete: „Die Tür war blockiert, weil der Motor aus war“. Die Agentur Interfax fügt hinzu, dass es dem Präsidenten jedoch gelungen war, sich den Blick ins Auto durch die andere Tür zu verschaffen“.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Exklusiv: RAF-Verdächtiger Garweg
Meldung aus dem Untergrund
Russische Männer auf TikTok
Bloß nicht zum Vorbild nehmen
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Umgang mit nervigen Bannern
Bundesrat billigt neue Regeln für Cookies