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Die WahrheitDas Rauschen der Tauben

Kolumne
von Hanna Pütz

In einem ruhigen Moment trafen sich unsere Blicke, doch in seinem deutete so gar nichts auf Leben hin. Leere …

M anche Tiere sind mir unheimlich. Einmal las ich eine Zeitschrift, in der große, hochaufgelöste Fotos von Haien zu sehen waren. Beim Umblättern achtete ich penibel darauf, nicht versehentlich ihre Zähne, Haut oder Kiemen zu berühren. Das ist irrational, aber zu verkraften, zumal Haie und ich in unterschiedlichen Wohnräumen leben.

Das trifft auf Stadttauben leider nicht zu. Die gefiederten Ratten sind unangenehme Zeitgenossen. Torkelnd flanieren sie auf Radwegen, Bahnübergängen und Wochenmärkten umher – zu Fuß, was allein schon bedenklich ist. Vor einigen Jahren nistete sich eine Herde von ihnen auf meinem Balkon ein.

Täglich boten sie eine groteske feder- und fäkallastige Schlacht ohne konkretes Ziel, und eines Sommerabends flog einer der pöbelnden Krawallbrüder in die angedockte Einzimmerwohnung. Die Stimmung war angespannt. In einem ruhigen Moment trafen sich unsere Blicke, doch in seinem deutete so gar nichts auf Leben hin. Leere. Seither weiß ich: Tauben sind die Zombies der Lüfte.

Vorstellbar ist es, dass ein kluger Ornithologe einst versuchte zu erforschen, was in den ziellos vor- und zurückwippenden Köpfchen der seelenlosen Tunichtgute vor sich geht. Wahrscheinlich ist er nach jahrelanger Mühe erschöpft in seinen Sessel gesunken, hat sich sein mittlerweile schütteres Haar gerauft und heiser geraunt: „Ich geb's auf …“

Hätte er etwas gefunden, es wäre nur ein leises, statisches Grisseln gewesen – wie das eines ältlichen Röhrenfernsehers nach Sendeschluss, ein grauweißes Flimmern. Und die erfolgreich abgeschlossene Habilitation des Vogelforschers hätte dann den klangvollen Titel „Das Rauschen der Tauben“ getragen.

Das Christentum kommt zu anderen Ergebnissen. Hier gelten Tauben als Boten Gottes. Im Neoschamanismus wird es noch spezifischer. Seine Anhänger erkennen in ihnen Krafttiere, also Geistwesen in Tiergestalt. Es heißt, Menschen mit dem Krafttier Taube seien feinfühlige Wesen, die häufig nach Frieden strebten. Ein pfiffiger Gedanke, wenngleich das auch in anderen Fachkreisen verbreitete Symbol der Friedenstaube verhaltensbiologisch unsinnig ist: Tauben sind angriffslustige Raufbolde. Soziale Kompetenz? Leider nein, leider gar nicht. Weiter heißt es, Menschen mit dem Krafttier Taube verirren sich auffallend selten. Das allein beweist, dass mein Krafttier ein anderes sein muss.

Nichtsdestotrotz gurrt es gerade wieder hektisch vor der Balkontür, und ein lieblos hergerichtetes Nest aus vier morschen Stöckchen liegt unter der Bank. Das nahe Gewusel erinnert an die Stalker-Taube, die mir wiederum anderswo begegnete. Ich taufte sie Ferdinand. Zögerlich versuchte er, seinen Fuß in das halbgeöffnete Küchenfenster zu schieben – mehrmals. Dass böse Absicht dahintersteckte, war spätestens klar, als Ferdinand sich in allerbester Horrorfilmmanier langsam umdrehte und sein Gebiss fletschte. Vielleicht habe ich das aber falsch in Erinnerung. Genau kann das niemand mehr sagen.

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