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Kolumne Ausgehen und RumstehenReprogrammier dein Gehirn

Früher hat Genesis P-Orridge die Welt mit Krach gequält, jetzt gibt er Tipps fürs Glücklichsein: Schalt das Handy aus und umarme deinen Nächsten.

Alles vorbei? Cover einer aktuellen Single von Cold Cave, Black Rain und Genesis Breyer P-Orridge Foto: Dais Records

I ch will nicht nostalgisch klingen“, sagt Genesis P-Orridge, nachdem er sein Frühstück verdrückt hat (ungesund aussehende Sandwiches mit Nachos), „aber das Internet ist ein Problem.“ Immer wieder beobachte er, wie junge Leute zusammensitzen, aber nicht miteinander reden, weil jede auf ihr Mobiltelefon starrt. „Wenn die Leute uns fragen, warum wir immer noch auf Tour gehen, antworten wir: Um einen Raum zu schaffen, in dem die Leute gemeinsam was erleben können, ohne Angst haben zu müssen, bewertet zu werden.“

Genesis spricht gern im Plural. Aus Opposition gegen jede Form von Identitätshuberei, vermute ich erst: Ich ist ein anderer und, wenn ja, sehr viele. Aber bald stellt sich heraus, dass er nicht alleine ist. Dah Gbedjinon Todome Setounatin aus Benin hat Genesis jüngst in den Vodoun-Kult eingeweiht.

Seitdem ist Gen mit einem priesterlichen Stock unterwegs, und, was wichtiger ist, mit einer Puppe, die eine Verbindung zu seiner Frau Lady Jaye herstellt, die vor einigen Jahren ihren Körper fallen ließ, wie Genesis es formuliert.

Abends im Astra wird der Plan, für ein paar Stunden eine Gemeinschaft herzustellen, in die Tat umgesetzt. Genesis tritt mit seiner Band Psychic TV auf. Hinter der Bühne sausen zwei Stunden lang psychedelische Muster und PTV-Logos herum.

Das erste Stück hat weder Strophe noch Refrain und ist eine Aufforderung, glücklich zu sein. „Be happy!“ Die praktische Anleitung geht so: „Du bist nicht alleine hier! Da ist noch jemand. Vor dir, hinter dir und neben dir. Dreh dich mal nach links. Lächle die Person neben dir an. Versucht es alle mal! Lächelt die Person links neben euch an! Jetzt dreht euch nach rechts. Umarmt die Person rechts neben euch! Ist euch das jetzt peinlich?“

Schön locker werden

Das alles trägt der Meister, der mit seinen zwei dicken Zöpfen, dem stattlichen Bauch und den Goldzähnen wie eine Drag Queen aus einer Wagner-Inszenierung von Christoph Schlingensief aussieht, in einem freundlichen Singsang vor, der die Möglichkeit einer leisen Ironie zulässt, der also einen Dreh findet, nicht guruhaft daherzukommen.

Die schwarzen Lederleute, also das Publikum, finden es gut. Ich auch. Wer in Mitte wohnt, von eher schlecht gelaunten, aber immer recht habenden Kleinbürgern mit zu viel Geld umgeben, muss diese kollektive Lockerungsübung gutheißen. Irgendwo muss die Reprogrammierung der Gehirne ja anfangen.

Tiefenentspannt geht es weiter. Die musikalische Referenz ist Psychedelic Rock aus den späten Sechzigern. Das beste Stück ist der Titelsong des im September erscheinenden Albums „The Alienist“. Schwerer elektronischer Funk, über den sich ein Flow-of-Consciousness-Rap ergießt: „The alienist is a psychologist in my brain.“

Es wird nie jerannt!

Zwei Tage später sind wir beim Minigolfen in Moabit, direkt gegenüber vom Knast. Die Sonne scheint, das Personal ist sehr freundlich, aber auch bestimmt: „Es wird nie jerannt! Vor Kurzemis’n Junge uff der Bahn ausjerutscht und hat sich ’n Arm jebrochen. Die Spielgeräte sind pfleglich zu behandeln. Die Bahn jehört dazu“, sagt der diensthabende hagere Mann mit grauer Matte und Oberlippenbart.

Eine der Freundinnen meiner Tochter ist auf präpubertärem Durchzugsmodus, die Programmierung im Gehirn von Teenagern befindet sich bekanntlich von ganz allein in einem Umstrukturierungsprozess. Obwohl ich ihr schon fünf Mal gesagt habe, „Sophie, du hast es gehört, bitte nicht über die Bahn“, rennt sie schließlich einem Ball hinterher, indem sie die Bahn auf voller Länge durchläuft und am Ende über das Hindernis springt.

Dann biste arm dran

Da steht auch schon unser Instrukteur auf der Matte: „Haste ’n Handy?“ Nein, lügt Sophie. „Haste ne Konsole?“ Nein, lügt Sophie. „Haste nen Computer?“ Nein, lügt Sophie. Der Instrukteur lässt sich nicht beirren: „Na, denn biste arm dran.“ Sophie macht ein empörtes Gesicht. „Aba nehm wa mal an, duhättest’n Handy, dis würdste ja auch nich mit Füßen treten, oda?“

Als er weg ist, sagt Sophie: „Der ist gemein!“ Kunstpause. „Er hat gesagt, ich bin arm dran! Ich will diesen Mann nie wiedersehen!“ Den grantigen alten Rocker umarmen musst du ja nicht gleich, Sophie. Aber lächle ihn doch einfach mal an! Dann wirst du happy. Er wird happy. Wir alle werden happy!

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Ulrich Gutmair
Kulturredakteur
Kulturredakteur der taz. Hat Geschichte und Publizistik studiert. Aktuelles Buch: "'Wir sind die Türken von morgen'. Neue Welle, neues Deutschland". (Tropen/Klett-Cotta 2023).
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