Neurowissenschaft und Glück: „Den inneren Arzt stärken“

Tobias Esch hat ein Modell ins Leben gerufen, das dem Ärztemangel entgegenwirken könnte. Nebenwirkungen: Gesundheitskompetente Patient*innen.

Frau sitzt allein auf einem Steg an einem See und meditiert

Jeder hat die Möglichkeit seinen inneren Arzt zu aktivieren Foto: Frank Sorge/imago

taz: Herr Professor Esch, Sie haben an der Universität Witten/Herdecke eine Universitätsambulanz gegründet, in deren Rahmen Sie den Beruf der „Therapeut*innen für Gesundheit“ geschaffen haben. Was machen die?

Tobias Esch: Unter Anleitung unserer The­ra­peu­t*in­nen für Gesundheitsförderung lernen die Pa­ti­en­t*in­nen Techniken aus den Bereichen Stressbewältigung und Achtsamkeit bzw. Mind-Body-Medizin, die sie in ihren Alltag integrieren können, um so ein ganzes Stück weit selbst Einfluss auf die Gesundheit zu nehmen. Das Ergebnis ist eine nachweisbare Stärkung der Stressresistenz und allgemeine Verbesserung der Gesundheit. Insbesondere bei chronischen Erkrankungen, die oft den Lebensalltag der Betroffenen massiv beeinflussen, kann die Anwendung der erlernten Strategien zu einer nachhaltigen Besserung des Wohlbefindens führen.

Wie unterscheidet sich so ein Gespräch von einem ärztlichen Anamnesegespräch?

Diese Art der Selbstreflexion stärkt das, was wir „den inneren Arzt“ nennen. Am Ende geht es darum, die Menschen zur Selbsthilfe zu ermächtigen. Wir sprechen in unserem Forschungsprojekt an der Uni Witten/Herdecke auch von Integrativer Gesundheitsversorgung oder Integrativer Gesundheitsförderung. Das hat nichts mit Alternativmedizin oder Esoterik zu tun. Das Schöne daran ist, dass die Pa­ti­en­t*in­nen die Erfahrung machen, dass sie selbst die Ex­per­t*in­nen für ihre eigene Gesundheit sind. Aus unserer Erfahrung und Forschung wissen wir, wie wichtig und auch befreiend es sein kann, selbst aktiv die eigene Gesundheit mitzubeeinflussen. Die Erfahrung zeigt, dass man in der Gruppe oft besonders gut seine persönlichen Ziele erreichen kann. Wir haben jetzt in Witten sogar einen Kurs, in dem die Leute, die den initialen Acht-Wochen-Kurs durchlaufen haben, danach selbst als Co-TherapeutInnen auftreten.

Der Neurowissenschaftler, Gesundheitsforscher und Facharzt für Allgemeinmedizin leitet das Institut für Integrative Gesundheitsversorgung und Gesundheitsförderung an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke. Sein Forschungsgebiet ist die Anwendung von Selbstheilungspotentialen in einer ganzheitlichen und modernen Medizin sowie das gesundheitliche Zusammenspiel von Körper und Geist, auch als Mind-Body-Medizin bezeichnet.

Zahlreiche Buchveröffentlichungen: „Die Neurobiologie des Glücks: Wie die Positive Psychologie die Medizin verändert“, „Der Selbstheilungscode“ oder „Mehr Nichts! Warum wir weniger vom Mehr brauchen“ und zuletzt der Bestseller: „Wofür stehen Sie morgens auf?“.

Ihr Modellprojekt ist bereits von den Kassen anerkannt und finanziert. Hat es Zukunft?

Ich glaube schon. Die Ärz­t*in­nen werden entlastet, weil die Betreuung auf mehrere Schultern verteilt wird. Die Tätigkeit als The­ra­peu­t*in für Gesundheit ist sehr attraktiv zum Beispiel für Menschen, die frustriert aus der Pflege rausgehen. Sie glauben gar nicht, was für eine Freude und Zufriedenheit dabei entsteht, in diesem Bereich und auf diese Weise integrativ und teambasiert – patientenzentriert – zu arbeiten.

Sie sind Mediziner und als sogenannter Glücksforscher in den Medien bekannt. Sie erforschen Themen wie Achtsamkeit, Meditation, Selbstwirksamkeit und Selbstheilung, die oft der alternativen Medizin zugeschrieben werden.

Ich sehe mich nicht als Alternativmediziner. Ich bin jemand, der aus dem Maschinenraum der Schulmedizin kommt. Und der Wissenschaft. Ich finde den Begriff Glücksforscher auch oberflächlich. Klingt nach rosaroter Brille.

Sie haben den Begriff Neurobiologie des Glücks geprägt. Was ist darunter zu verstehen?

Im Labor, wo wir Zellen untersuchen, haben wir bestimmte Belohnungsbotenstoffe im menschlichen Gehirn gefunden. Botenstoffe, die auch in der lebenszeitlichen Entwicklung auseinander hervorgehen. Da sind etwa Dopamin, Adrenalin und Noradrenalin oder auch endogene Opiate zu nennen. Demnach kennen wir drei Formen des Glücks, die sich über die menschliche Lebenszeit unterschiedlich verteilen. Das erste nennen wir das Wollen-Glück, das jugendliche Glück. Dieser Zustand ist stark mit Vorfreude und Euphorie verbunden. Das zweite ist das Vermeidungs-Glück. Es ist das Glück der Erleichterung nach Stresssituationen. Dabei sind andere Hirnstrukturen aktiv als beim euphorischen Glück. Es ist vor allem das Glück der mittleren Lebensphase. Die dritte Form des Glücks ist die Zufriedenheit. Es ist ein Glück des Daseins. Dieser Zustand kann sowohl von den Botenstoffen her, als auch in den Hirnstrukturen, die beteiligt sind, von den anderen Formen des Glücks unterschieden werden. Im Zustand der Zufriedenheit spielt beispielsweise endogenes Morphium mutmaßlich eine Rolle. Dieses stellt quasi ein Endprodukt der Glückssequenz dar, auch biochemisch, es charakterisiert fast symbolisch das Glück reiferer Lebensphasen. Es ist auch das Glück der Älteren. Die Glückseligkeit des Ankommens.

Was ist damit gemeint?

Eine Art von Glück, die darauf beruht, dass ich weder etwas haben muss noch mich gegen etwas verteidigen oder durchsetzen muss. Es ist in dieser Lebensphase messbar größer. Damit ist auch das Glück der Verbundenheit, eben jenes Gefühl des Angekommenseins, gemeint.

Ich kenne allerdings viele Menschen, die mit der drohenden Bedeutungslosigkeit im Alter hadern. Sie fühlen sich nicht mehr gesehen.

Ja, das kommt sicher auch vor. Aber vor allem gibt es das Zufriedenheitsparadoxon: Trotz körperlicher Gebrechen scheinen die Menschen im Alter zufriedener zu sein. Das macht Sinn, weil der Körper nun mal vergänglich ist. Deswegen haben diese ineinander übergehenden drei Formen des Glücks auch eine biologische Logik.

Wie sind Sie als Mediziner überhaupt auf die Frage des Glücks gestoßen?

Das war anfangs überhaupt nicht mein Thema. Aber als Pflegehelfer bei unseren PatientInnen ist mir damals schon aufgefallen, dass einige Menschen selbst mit den schwersten Krankheiten ihren Frieden machen konnten. Sie konnten die Krankheit loslassen und in Frieden gehen. Dann war es für alle Beteiligten nicht mehr so furchtbar. Ich habe mich gefragt: Was versetzt Menschen im Angesicht von Tragödie und schwerem Leid in die Lage, trotzdem sich selbst und ihre Angehörigen zu trösten? Und wieso schaffen manche das und andere nicht?

Ist das für die Medizin überhaupt relevant?

Ja, ich denke schon. Für die Gesundheit gibt es in der Medizin objektive Kriterien. Man misst den Blutdruck und die Temperatur, untersucht den Stuhlgang und schaut nach körperlichen und psychischen Symptomen. Wir fügen nun eine vierte Dimension hinzu: Die Selbstheilung, die subjektive Bedeutungsdimension. Das ist ein zentraler Punkt unserer Forschung. Neben dem äußeren Arzt gibt es auch den inneren Arzt.

Und den befragen Sie?

Genau. Der muss sich fragen: Wofür stehe ich morgens auf? Wovor habe ich Angst? Wo zieht es mich hin? Was sind die Dinge, Orte, Aktivitäten, mit und an denen ich glücklich bin?

Die Frage „Wofür stehen Sie morgens auf?“ stellen Sie in ihrem neuesten Buch mit eben diesem Titel. Geht es um die Sinnfrage?

Genau, es geht um Sinnlichkeit und Bedeutung. Um das, was das Leben heute bereithält, nicht morgen und nicht gestern. Um die Tatsache, dass ich da bin und dass ich diesem Tag durch meine pure Existenz einen Sinn geben kann. Nicht so sehr, weil ich so furchtbar sinnvoll bin. Aber ich bin da, und das ist wunderbar.

Als Gründe für Burnout gelten beispielsweise ständiger Leistungsdruck, zu viel oder zu wenig Verantwortung oder Zukunftsängste. Sie aber sehen in Burnout eine Art Sinnerkrankung. Warum?

Ich behaupte: Beim Burnout finde ich meine Essenz nicht wieder. Ich verliere mich, ich erkenne mich nicht wieder und habe keine Resonanz mit der Welt, weil ich deren Sinnhaftigkeit nicht mehr sehe. Es gibt einen inneren Stau, weil sich die Betroffenen nicht ausleben und spüren können. Wenn wir Menschen mit Burnout diesen Resonanzraum wiedergeben, dann füllen sie – im Gegensatz zu jemandem mit einer Depression – ihn aus. Der Depressive hat tatsächlich eine stark eingeschränkte Motivation. Das Belohnungssystem selbst ist erkrankt. Unglücks-Erkrankungen sind solche, die entweder mit fehlender Sinnhaftigkeit einhergehen oder dem Gefühl, nicht verwurzelt zu sein.

Sie sagen, auch für den Selbstheilungsprozess sei der Placebo-Effekt durchaus nachweisbar?

Da das Gehirn ein Organ ist, also Teil des Körpers, ist der Placeboeffekt nicht rein psychologisch oder subjektiv. Er ist ebenso körperlich. Er ist messbar, planbar, in großen Teilen vorhersagbar. Die praktische Quintessenz von Placeboeffekt und Selbstheilung: Ohne mich, ohne uns selbst, ohne das Individuum, um das es geht, wird Gesundheit nur schlecht funktionieren. Nutzen wir dieses Potential nicht aktiv, so verschwenden wir ein großes Heilungspotenzial.

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