Theatertreffen Berlin: Als Effi zur Emanze wurde
Mit Musik durch die Zeit reisen: Das beherrschen die Regisseure des Theatertreffens. Da muss sich Effi Briest schon mal mit Chauvi-Witzen herumschlagen.
In einem Film von Éric Rohmer, „Sommer“ von 1996, kann sich ein junger Mann in seinen Ferien in der Bretagne nicht zwischen drei Frauen entscheiden. Am Ende entzieht er sich den Verwirrungen des Gefühlslebens und reist ab, um günstig ein 8-Spur-Tonband zu kaufen. Das Tüfteln am Gerät scheint einfacher als das Tüfteln an Leib und Seelen der jungen Frauen. Und die Gedanken darüber, warum das andere so schwer ist, formen sich wiederum im Chanson.
Musik als Ersatzhandlung; gemeinsam Schallplatten hören, wo die Worte versagen, um das Geflecht der Spannungen aufzudröseln; dem Verstummen mit herzzerreißenden Klängen begegnen – das verbindet die Regisseurin Anna-Sophie Mahler mit dem Regieteam Clemens Sienknecht und Barbara Bürk. Von ihnen stammten die zuletzt gespielten Produktionen auf dem Berliner Theatertreffen.
Beide Male ging es um Romantexte: Anna-Sophie Mahler kam von den Kammerspielen München mit „Mittelreich“, nach einem Roman von Josef Bierbichler; Sienknecht und Bürk vom Deutschen Schauspielhaus Hamburg mit „Effi Briest“ – allerdings mit anderem Text und anderer Melodie. Sich mit Kunstliedern und Songs zurückzubewegen in der Zeit und entfernt liegende gesellschaftliche Räume ganz leicht aufzuschließen, das beherrschen sie alle.
Eine Musiktruhe (die erste von Grundig mit Radio und Schallplattenspieler) schafft der Seewirt an in „Mittelreich“. Es ist die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, Ausgebombte und Vertriebene sind statt der Sommergäste einquartiert. Eben hörte man von der Vergewaltigung eines Mädchens durch russische Soldaten in einer Textpassage, die, was sie beschreibt, gleichzeitig fernhält durch das Gesetzte, Vorsichtige der Sprache. Damian Rebgetz, dessen Deutsch einen leichten Akzent hat, spricht, als liefen die Wörter auf Zehenspitzen durch ein Minenfeld.
Pause gegenüber der Mühsal
Der unterdrückte Schrecken ist noch gegenwärtig, die Spannung noch nicht gelöst, als Stefan Merki in der Rolle des Wirts die Truhe hereinträgt. Seine Frau Theres (Annette Paulmann) fällt ihm um den Hals, auch wegen der mitgebrachten Schallplattenaufnahmen klassischer Musik. Dazu die Liebe zu teilen verschafft ihnen beiden eine Pause gegenüber der Mühsal und dem Zweifeln: dass man das Leben, das man führt, nicht selbst gewählt zu haben scheint; dass man hineingestellt wurde von seinen Vorgängern.
Was an Textpassagen ausgewählt ist aus dem Roman von Josef Bierbichler, erzählt vom Seewirt selbst, von Theres, ihrem Sohn sowie einem hermaphroditischen Kinderfräulein und umfasst einen großen Zeitraum. Motive kehren wieder, wie etwa die ersehnte und nie bestätigte Anerkennung der elterlichen Liebe. Nach und nach zeichnen sich immer mehr Beschränkungen und Verhinderungen ab, die fast jede Figur an einen Platz binden, der sie unglücklich macht. Diese verhakelten Beziehungen, diese verengten Aussichten (eingesperrt in einen Bühnenraum wie in den Hof des Seewirts) sind aber durch die Musik gerahmt in die Möglichkeit einer Öffnung.
Am Anfang ist es ein Requiem von Brahms, gesungen von einem Chor des Jungen Vokalensembles München, das den Raum zwischen Himmel und Grab weit aufreißt. Obwohl sich die Inszenierung einerseits im Verlauf der Aufführung von diesem emportragenden Anfang entfernt, läuft sie andererseits wieder darauf zu. Denn das musikalische Requiem gehörte zu der Trauerfeier für den gestorbenen Seewirt, den wir dann über viele Jahrzehnte auf diesen Punkt zusteuern sehen.
Die Songs wissen vom Schmerz
Die Inszenierung „Mittelreich“ ist stets von Trauer grundiert. Pfiffigkeit und eine große Lust an der sehr trockenen Ironie von Theodor Fontane ist dagegen der Grund, auf dem Clemens Sienknecht und Barbara Bürk ihre „Effi Briest“ erfinden. Das nostalgische Ambiente (halb ein mit vielen Stehlampen zu vorsichtigen Bewegungen ermahnendes Wohnzimmer, halb ein mit vielen Instrumenten vollgestelltes Tonstudio) blendet dabei in eine Zeit zurück, als man in den sechziger, siebziger Jahren den Roman Fontanes als Drama einer verhinderten Emanzipation wiederentdeckte.
Es spielen eine Frau, Ute Hannig, und fünf Männer. Sie übernimmt immer den O-Ton von Effi, die anderen spielen neben den Männerrollen auch die Rollen ihrer Mutter und ihrer Freundinnen, stets mit einer gewissen Schadenfreude an den Stilisierungen des Weiblichen. Ute Hannig, im Übrigen eine wunderbare Sängerin, ist also für Effi stets auch mit der Liebe einer Frau zu dieser Figur zuständig, die sie gegen einen leicht spöttischen Männerclub verteidigen muss. Das macht, durch alle Witze hindurch, eine große Verletzbarkeit aus; das Lustige aber packt einen zuerst.
Die Romanerzählung ist doppelt verpackt: Das eine Setting ist das einer Familie, die andächtig um einen Plattenspieler herumsitzt und hört, wie Gert Westphal, schon vor Jahrzehnten der „König der Vorleser“ genannt, sich gemächlich und mit spürbarem Vergnügen durch Fontanes Text bewegt. Das zweite Setting ist ein Radiostudio, der Sender „Effi Briest“, der mit vielen Jingles und Oldies durch eine Nacht führt und Kapitel von Effi dazwischenschiebt. Die Songs aber, die gesungen werden, von den Beach Boys, James Brown, den Rolling Stones oder Frank Sinatra, erzählen die Situation stets weiter. Was an Sehnsucht, an mangelndem Leben, an Eifersucht, Misstrauen und Schmerz in den Figuren arbeitet, davon wissen die Songs eben viel, auch wenn sie aus einem ganz anderen kulturellen Kontext stammen.
Sehr genau musikalisch durchdacht ist dabei der Wechsel von Text und Musik. Und doch ist die Präzision getarnt hinter einem Kokettieren mit dem Nichtperfekten, den Fehlern im Ablauf, den Missverständnissen zwischen Mensch und Technik.
Müdigkeit, Coolness und Abgeklärtheit
Das kauzige Outfit der ganzen Inszenierung hat etwas von liebevoller Tarnung. So wie Michael Wittenborn, in Jeans und Weste, am Mikrofon des Night-Talkers hängt, eine Mischung aus Müdigkeit, Coolness und Abgeklärtheit, und dann doch genau zu sehen scheint, was in Effi vorgeht. Eigentlich geht es allen um das Mitgefühl mit dieser Frau, die in die falsche Ehe gebracht, langsam verkümmert.
Anna-Sophie Mahler war Assistentin beim Schweizer Regisseur Christoph Marthaler, in dessen Inszenierungen Clemens Sienknecht seit Anfang der 1990er Jahre als Pianist und Schauspieler dabei war. Sicher haben beide viel von ihm gelernt, was das Ineinanderdenken von Sprache und Musik angeht, aber das macht nur einen Teil ihrer Nähe aus. Verwandt sind sie sich auch in der Eigenwilligkeit einer Ästhetik, die sich einen eigenen Ort schafft, an dem vieles aufgehoben ist, das im Leben so leicht unter die Räder kommt.
Das Theater erfindet sich in ihnen nicht neu und sprengt auch keine Grenzen. Es holt stattdessen das Bestmögliche aus dem raus, was innerhalb der Beschränkung geht. Für das Theatertreffen war das ein guter und treffender Schlusspunkt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!