: Innere Einkehr in der Reihenhaus-Idylle
ETHNO-POP Idan Raichel hat den Soundtrack seiner Generation in Israel komponiert. Sein letztes Werk markiert einen künstlerischen Wandel: weg von üppig zelebrierter Multikulti-Vielfalt, hin zu Songwriter-Innerlichkeit
Sein Haus könnte auch in einer deutschen Vorstadt stehen, doch statt Gras und Blumenbeeten bedeckt hier knallgrüner Kunstrasen den Boden. Bunte Spielsachen liegen verstreut, die Hollywoodschaukel quietscht im Wind, und in den Ecken haben sich Gartenzwerge zusammengerottet. In diesem Mittelklasse-Idyll wohnt einer der berühmtesten Musiker Israels.
Hier, in Kfar Saba, einem Dorf rund 50 Kilometer nordöstlich von Tel Aviv, ist Idan Raichel aufgewachsen. Das Reihenhaus haben seine Eltern gebaut. Seine Mutter spricht Deutsch – mit den beiden Enkelkindern und auch mit Idan Raichels Frau, einer Österreicherin. Raichels Großmutter lebte einst am Berliner Alexanderplatz. Das war vor dem Holocaust.
Im Keller des Hauses ist heute ein Tonstudio eingerichtet. Hier entstehen all die Hits von Idan Raichel, die in Israel so beliebt sind bei Jung und Alt. Fast jeder Israeli kann sie mitsingen. Das gilt auch für die elf Songs des neuen Albums „At the Edge of the Beginning“, die in Israel schon etwas länger als in Deutschland auf dem Markt sind und bereits bei ausverkauften Tourneen präsentiert wurden. Zumeist auf Hebräisch gesungen und mit Klavier begleitet, markieren sie einen künstlerischen Wandel. Denn die Hauptbeschäftigung des Musikers bestand in den vergangenen zwölf Jahren vor allem darin, Künstler aus allen Erdteilen in den Musikkosmos seines Idan Raichel Project zu integrieren.
Statt multikultureller Vielfalt also nun intimes Singer-Songwritertum: „Manchmal musst du im Leben innehalten und zu den einfachen Dingen im Leben zurückkehren“, sagt der 1977 geborene Sänger, der mit über 100 verschiedenen Musikern zusammengearbeitet hat, darunter Ana Moura und Mayra Andrade sowie US-Popstars wie India.Arie und Alicia Keys. Zuletzt hat er mit dem deutschen Countertenor Andreas Scholl und dessen Frau Tamar Halperin, einer Bach-Expertin, das Barocklied „In stiller Nacht“ eingespielt. Dieser Mann ist stets für Überraschungen gut.
„Meine Songs zählen zum israelischen Mainstream. Viele Israelis sind damit groß geworden oder verbinden wichtige Erlebnisse mit ihnen. Es ist eine Ehre für mich, dass meine Musik zum Soundtrack ihres Lebens gehört. Nur außerhalb Israels wird meine Musik als Worldmusic definiert – so wie die von Miriam Makeba aus Südafrika oder Caetano Veloso aus Brasilien.“
An diesem Stempel dürfte auch „At the Edge of the Beginning“ nichts ändern, dabei handelt es sich um ein sehr persönliches Album. Es gehe um die Dinge, die innerhalb seiner eigenen vier Wände passieren, sagt Raichel: um seine Familie, um seine Kinder. Klug komponiert waren Idan Raichels Songs von jeher, auch wenn sie zuweilen etwas überfrachtet wirkten. Doch nun wird sichtbar, was diesen Musiker auszeichnet: Er besitzt das Talent, unvergessliche Songs zu schreiben. Raichel steht damit auf einer Stufe mit den großen israelischen Songschreibern Arik Einstein, Shalom Hanoch oder Chava Alberstein. Ihren Songs kann man sich nicht entziehen, selbst wenn man kein Hebräisch kann.
Jonathan Scheiner
Idan Raichel: At the Edge of the Beginning (Cumbancha)
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