piwik no script img

WBGU-Gutachten über RiesenstädteDer große Umzug in die Megastädte

Die Urbanisierung schreitet weltweit unaufhaltsam voran. Wuchernde Riesenstädte treiben auch den Klimawandel immer weiter an.

Megacities wie Hongkong sind ökologische Monster und Ressourcenfresser Foto: Bobby Yip/reuters

Das 21. Jahrhundert gilt als das Jahrhundert der Städte. Niemals zuvor lebten so viele Menschen in urbanen Zentren, und der Trend setzt sich weiter fort. Doch Städte sind in ihrer heutigen Form gigantische Ressourcenfresser, ohne ökologische Nachhaltigkeit.

Der Klimawandel wird durch die Wucherung der Megacities angetrieben, die im Gegenzug seine am härtesten betroffenen Opfer sind: durch Wetterextreme und Meeresanstieg. In seinem neuen Gutachten „Der Umzug der Menschheit“ nimmt der Wissenschaftliche Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU) der Bundesregierung die besorgniserregende Entwicklung in den Blick und macht Vorschläge, wie die „transformative Kraft der Städte“ zukunftsverträglicher genutzt werden könnte.

Die Dimensionen, die Experten erwarten, sind bedrückend. Von den inzwischen über 7 Milliarden Menschen auf der Erde werden 2 bis 3 Milliarden innerhalb weniger Jahrzehnte in die Städte drängen. Die größte Migrationsbewegung in der Menschheitsgeschichte hat begonnen.

„Die Wucht der derzeitigen Urbanisierungsdynamik und ihre Auswirkungen sind so groß, dass sich weltweit Städte, Stadtgesellschaften, Regierungen und internationale Organisationen diesem Trend stellen müssen“, so Dirk Messner, Direktor des Deutschen Instituts für Entwicklungspolitik in Bonn und einer der beiden Leiter der WBGU-Kommission, die sich aus neun Wissenschaftlern zusammensetzt. In den Städten werde sich entscheiden, ob die „große Transformation zur Nachhaltigkeit“ gelingen oder scheitern werde.

Schon jetzt leben mehr als 850 Millionen Menschen in unzumutbaren Wohnverhältnissen. Im Afrika südlich der Sahara hausen rund zwei Drittel der Stadtbevölkerung in Slums, in Asien etwa ein Drittel. Und in diesen Weltregionen wird auch 90 Prozent des Wachstums der globalen Stadtbevölkerung erwartet. „Die aktuellen Fluchtbewegungen zeigen, wie schwer es selbst wohlhabenden Staaten fällt, raschen Zuzug in ihre Städte zu bewältigen“, bemerkt die Studie. Wie erst in den ärmeren Regionen? Bis 2050 könnte sich die Zahl der Slum-Bewohner um 1 bis 2 Milliarden erhöhen.

Allein China hat zwischen 2008 und 2010 mehr Zement verbaut als die USA seit Beginn der Industriellen Revolution, in nur drei Jahren

Dirk Messner

Das soziale Drama korrespondiert mit der ökologischen Plünderung. Schon heute werden 70 Prozent der energiebezogenen Treibhausgas-Emissionen in den Städten erzeugt. Werden immer neue Siedlungen energieaufwendig mit Zement und Stahl gebaut, setzt allein diese Bautätigkeit bis 2050 so viele Klimagase frei, dass das Pariser 1,5-Grad-Ziel praktisch nicht mehr zu halten wäre. „Allein China hat zwischen 2008 und 2010 mehr Zement verbaut als die USA seit Beginn der Industriellen Revolution, in nur drei Jahren“, macht Messner die Dynamik deutlich.

„Eine Stadt wie Hongkong in ihrer extremen Verdichtung ist nur lebensfähig, weil sie Erdöl, Metalle, Lebensmittel aus dem Umland und der ganzen Welt aufsaugt, verdaut und die Rückstände wie Müll, Schmutzwasser, Abgase ins Umland ausstößt“, ergänzt Hans Joachim Schellnhuber, langjähriger WBGU-Vorsitzender und Direktor des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung.

Der WBGU-Beirat plädiert daher für einen radikalen Wandel beim Betrieb bestehender und beim Bau neuer Städte. Leitziel müsse anstelle eines Stadtmolochs eine Struktur mit vielen kleineren urbanen Zentren sein: eine „polyzentrische“ Stadtgestalt. Mit neuen Technologien könne dieser Weg gelingen. „Die Dezentralität der Erzeugung erneuerbarer Energien, der Kreislaufwirtschaft und auch etwa der digitalen Ökonomie ermöglicht eine Entdichtung der Städte“, erklärt Schellnhuber und verweist auf Vorbilder: „Die polyzentrische Integration in Regionen wie das sich neu erfindende deutsche Ruhrgebiet oder die San Francisco Bay Area können Modelle für Urbanität der Zukunft sein.“ Die Vorschläge des 500-Seiten-Gutachtens zielen auch auf die UN-Konferenz „Habitat“ (UN-Weltprogramm für Siedlungswesen), die in diesem Jahr zum dritten Mal zusammenkommt.

Im Klimabereich fordern die Berater, alle fossilen CO2-Quellen in Städten bis 2070 durch Alternativen zu ersetzen und den Energieverbrauch zu senken. Gerade die städtischen Verkehrssysteme sollten „vollständig dekarbonisiert“ werden. Sei es durch „die Stadt der kurzen Wege mit Durchmischung von Wohn- und Arbeitsviertel“ wie auch durch den Ausbau des öffentlichen Nahverkehrs.

Grünflächen und Kreislaufwirtschaft

Auch müsse die „Anpassung an den Klimawandel“ vorangetrieben werden, etwa durch Vorhalt von Grünflächen ohne Bebauung. Nötig sei ferner, eine Kreislaufwirtschaft in den Städten zu etablieren, „nicht nur etwa bei Elektroschrott, sondern auch beispielsweise im Baurecht durch Vorschriften zur Rückbaubarkeit und Recyclingfähigkeit von Gebäuden“, heißt es im Gutachten.

Mehr Stadtgrün soll auch helfen, einem Psychoproblem zu begegnen: Städte machen verrückt. Stadtbewohner werden drei mal häufiger psychisch krank als Landbewohner. „Die Verarbeitung der hohen Reizdichte und potenzieller Stressoren in einer Stadt erfordert kognitive Ressourcen, die zu mentaler Ermüdung führen können“, formuliert die Studie im Expertenjargon. Neben der Reduktion von Stressoren sei es daher „für die Lebensqualität in Städten von hoher Bedeutung, ob Erholungsräume vorhanden sind und entsprechend genutzt werden können“. Solche Erholungsräume können Grünräume und urbane „Natur“, aber auch gebaute Umwelten sein.

Sowohl Laborexperimente als auch Feldstudien bestätigten den Erholungseffekt von Naturerlebnissen, insbesondere im Zusammenhang mit aktiver Bewegung in der Natur. Dies lasse sich sowohl „subjektiv“ (Wohlbefinden, Abbau von Stress und negativen Emotionen) als auch „objektiv“ (Sinken von hohem Blutdruck, erhöhte Konzentration) nachweisen. Die Humanisierung der Stadt wird offenbar nur mit dem Hereinholen der Natur gelingen.Vergleichsweise randständig werden in dem Gutachten dagegen Fragen der Stadternährung, Urban Farming und kommunaler „Food Policy“ behandelt. Dabei ist das Thema hochaktuell: So hat sich in Berlin in der vorigen Woche ein zivilgesellschaftlicher „Ernährungsrat“ gegründet.

Im Kapitel „Urbane Gesundheit“ wird zwar als eine der großen Herausforderungen die Ausbreitung ungesunder Lebensstile und Gewohnheiten – „vor allem ungesunde Ernährung und mangelnde Bewegung“ – genannt. Empfehlungen werden aber nur auf dem Level gegeben „Die Stadtbevölkerung sollte zu gesunden Ernährungsmustern und dem achtsamen Umgang mit Lebensmitteln befähigt werden“.

Ein neues Institut

Da ist die gesellschaftliche Diskussion der wissenschaftlichen Expertise eindeutig voraus. Vielleicht ist es auch ein Thema für ein künftiges „Max-Planck-Institut für urbane Transformation“, dessen Gründung der WBGU vorschlägt, um die Forschung weiter voranzutreiben, sowie die „Einrichtung globaler urbaner Reallabore“.

Vor fünf Jahren hatte der Umweltbeirat sein Gutachten „Welt im Wandel – Gesellschaftsvertrag für eine Große Transformation“ vorlegt. In der Rückschau ist es für Schellnhuber „das erfolgreichste WBGU-Gutachten, das die Nachhaltigkeitsdebatte seit Jahren prägt“. Die jetzige Studie zur Urbanisierung verstehe sich auch „als Fortsetzung und Übertragung des Themas Transformation auf die Städte“, erklärt der Klimaforscher weiter.

Eine Erwartung richtet sich auch an die deutsche Bundesregierung, die im Rahmen ihrer G-20-Präsidentschaft 2017 das Thema Urbanisierung und Transformation auf die Tagesordnung setzen sollte. Als politisches Ziel schlägt der WBGU vor, das UN-Programm für Siedlungswesen (UN-Habitat) zu reformieren und so zu stärken, dass es „mindestens auf Augenhöhe“ mit Programmen wie dem Umweltprogramm Unep agieren könne.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen

Mehr zum Thema

0 Kommentare

  • Noch keine Kommentare vorhanden.
    Starten Sie jetzt eine spannende Diskussion!