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Der Tod und das Märchen

FotoEine Ausstellung im Willy-Brandt-Haus bringt Licht an die verwunschenen Orte Tschernobyls und Fukushimas

Wirklichkeit: Die Suche nach Vermissten konnte wegen der hohen Radioaktivität erst einen Monat nach der Katastrophe von Fukushima beginnen, Japan 2011 Foto: Ryuichi Hirokawa

von Ralf Hanselle

Souverän ist, wer über die Sperrzonen verfügt: verbotene Orte oder verwunschene Zimmer, die schon im klassischen Märchen für erheblichen Wirbel sorgen konnten. Einmal betreten oder nur kurz hinter ihr Geheimnis gelugt, und die Geschichte konnte von da an eine ungewohnte Wendung bekommen.

Mit die gefährlichsten No-Go-Areas der Wirklichkeit liegen weiterhin in den ukrainischen Städten Prypjat und Tschernobyl sowie im japanischen Fukushima.

Begonnen hatte die Verwünschung am 26. April 1986. Als an diesem Frühlingstag vor 30 Jahren der Reaktorblock 4 des berüchtigten Atomkraftwerks Tschernobyl durch zwei Explosionen erschüttert wurde, entwich hier eine radioaktive Strahlung von 50 Millionen Curie. Die Bewohner der Städte rund um die Anlage wurden über diese Katastrophe nicht informiert. Zwar hörten sie die Explosion, das freigesetzte radioaktive Material aber verschwieg man ihnen. Erst 38 Stunden später erfolgte der Exodus. 116.000 Menschen wurden durch die damalige sowjetische Regierung umgesiedelt. Später stieg ihre Zahl auf 350.000.

Im Umkreis von dreißig Kilometern entstand eine Sperrzone, die bald zur Todeszone werden sollte. Noch heute ist es verboten, näher als zehn Kilometer vom stillgelegten Atomkraftwerk entfernt zu siedeln. Lediglich alte Leute, die ihre Rechnung mit der Zukunft gemacht zu haben scheinen, leben noch in dieser verseuchten Region der Ukraine. Zerstörte Natur, keinerlei Versorgung und die ständige Gefahr, der provisorische Sarkophag über dem Reaktor könnte Risse bekommen, haben aus diesem Landstrich einen schauderhaften Nichtort gemacht.

Der japanische Fotograf Ryuichi Hirokawa hat dieses Sperrgebiet bereits kurz nach dem GAU besuchen können. Seither ist er immer wieder dorthin gekommen. Er hat fotografiert, sich mit den Schicksalen der Menschen beschäftigt und 1991 die Stiftung The Chernobyl Children’s Fund gegründet.

Seine fotografischen Begehungen der verbotenen Orte in Tschernobyl und in Fukushima sind derzeit in einer Ausstellung im Willy-Brandt-Haus zu sehen. Unter dem Titel „Nuclear, Democracy and Beyond“ besichtigt der heute 72-jährige Hirokawa zusammen mit seinem Landsmann Kenji Higuchi die Überreste eines Zeitalters, in dem man angeblich mehr herstellen als vorstellen konnte.

So wie die Namen der beiden Meiler zu Symbolen erstarrt sind, so scheint auch rund um die Katastrophenorte selbst die Zeit regungslos und zäh geworden zu sein

Nur eine Annäherung

Und so bleiben auch die fotografischen Ansichten des Super-GAUs – egal ob in Tschernobyl oder in Fukushima, wo sich am 11. März 2011 eine noch größere Katastrophe ereignete – immer nur eine Annäherung. Die renommierten japanischen Fotojournalisten, die beide zu wichtigen Persönlichkeiten innerhalb der japanischen Anti­atom­bewegung geworden sind, umkreisen das, was letztlich niemals darstellbar sein wird.

Auf ihren Bildern zeigen sie zerstörte Landschaften, verlassene Straßen oder Kartoffeln und Pilze vor Geigerzählern. So wie die Namen der beiden Meiler zu Symbolen erstarrt sind, so scheint auch rund um die Katastrophenorte selbst die Zeit regungslos und zäh geworden zu sein. Manche Häuser auf den Bildern Hirokawas etwa sind der­art zugewuchert, dass sie wie Märchenkulissen erscheinen wollen. Hier aber gibt es keine Happy Endings. Mag bei Dornröschen ein Prinz in 100 Jahren erscheinen, so beträgt die Halbwertzeit einiger der in Tschernobyl freigesetzten Elemente gut 300.000 Jahre. Zu lange also, um auf Erlösung zu warten.

So bleiben nur hohle Versprechungen. Über einer Straße in Fukushima etwa hat Ryuichi Hi­ro­kawa ein Transparent ausmachen können: „Mit Atomkraft in eine leuchtende Zukunft“. Gespannt zwischen einer Häuserwand und einem in Blüte stehenden Kirschbaum zeugt es trotzig von der Kraft eines Glaubens, der nicht nur in Japan über Jahrzehnte hinweg den Mainstream von Denken und Bewusstsein bestimmt hat.

Die Auswirkungen dieses Trotzes hat der Fotograf Kenji Higuchi unter die Lupe genommen. Bereits seit den 1970er Jahren begleitet der Gründer des Nippon Photography Institute die meist zu Dumpinglöhnen beschäftigten Atomkraftwerks-Leiharbeiter in den derzeit 17 japanischen Kernreaktoren. 19 Bücher hat Higuchi über die heute nur noch zynisch klingende Zukunftssentenz der Atomlobby gemacht.

Auf seinen Fotografien ist die „leuchtende Zukunft“ lange vorbei. Geblieben ist eine strahlende Gegenwart. Immer wieder blickt man bei Higuchi in die Gesichter von an Leukämie erkrankten Menschen. Man sieht sie in Krankenhäusern oder steht mit ihren Verwandten vor ihren Gräbern. Es sind Sichtbarmachungen des Unsichtbaren.

Traum: Baden gehen mit dem AKW Mihama im Hintergrund, Japan 2004 Foto: Kenji Higuchi

Denn egal ob in Tschernobyl, Fukushima oder an anderen verwunschenen Orten der Welt: Das Eigentliche wirkt verborgen im Dunkeln. Unter Tonnen von Beton und Staub entwickelt es seine schier gespenstische Zersetzungskraft.

Abbilden können wird man diese niemals. Doch Hirokawa und Higuchi ist es immerhin gelungen, für einen Moment hinter den Sperrzaun zu blicken.

Tschernobyl-Dossier

„Nuclear, Democracy and Beyond“. Fotografien von Ryuichi Hirokawa und Kenji Higuchi im Willy-Brandt-Haus, Stresemannstr. 28, bis 22. Mai, Di.–So., 12–18 Uhr. Eintritt frei, Ausweis erforderlich

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