: Welt berührt Wolfsburg
VWOW Darüber werden sie in der Stadt am Mittellandkanal noch sprechen, wenn kein Mensch mehr weiß, was ein Dieselmotor war: Der VfL besiegt Real Madrid mit 2:0
aus Wolfsburg Peter Unfried
Es ist beruhigend, dass immerhin Fußballfans sich noch das Träumen erlauben dürfen. „Jetzt nicht die Bayern“, rief ein VfL-Anhänger auf dem Heimweg in die Wolfsburger Nacht, „lieber bitte gleich Barcelona.“ Nachvollziehbar: Nach einem königlichen 2:0 über Real Madrid im Viertelfinale der Champions League sucht man die letzte Herausforderung. Als Fußballprofi indes ist das öffentliche Träumen streng verboten, selbst in der ironischen Variante. Weshalb der großartig haltende VfL-Kapitän Diego Benaglio der richtige Mann war, um zu referieren, dass die Partie sicherlich „in guter Erinnerung“ bleiben werde. Doch in der Champions League sei es nun mal so: „Es gibt noch ein Rückspiel.“ Ach, so? Je grandioser die Reflexe des Schweizer Keepers, desto staubtrockener sind hinterher seine Sicherheitsstatements.
Er hat ja auch recht. Es geht weiter, immer weiter. Ob dieses Viertelfinale oder gar ein potenzielles Weiterkommen nächsten Dienstag der „größte Erfolg der Vereinsgeschichte“ wäre, also mehr wert als der Meistertitel 2009, darüber kann man streiten. Aber Fußball wird in Wahrheit nicht mal für Pokale gespielt. Und schon gar nicht für das Erreichen irgendeines Halbfinales. Er wird für die kollektiven Erinnerungen gespielt, und deshalb kann man festhalten, dass es einen solchen Moment in der lange nicht sehr ruhmreichen Vereins- und GmbH-Geschichte noch nicht gegeben hat, wie jenen, als der Stadionsprecher rief: „VfL Wolfsburg zwei und, äh, Madrid?“ Tja: null. Darüber werden sie in Wolfsburg noch sprechen, wenn kein Mensch mehr weiß, was eigentlich ein Dieselmotor war.
Wie es zu diesem Sieg gegen den zehnmaligen Champions- League- und Landesmeistersieger kommen konnte, nachdem man vor der Partie keine 5 Euro auf den in diesem Jahr nur mittelmäßigen Bundesliga-Vizemeister gesetzt hätte? Zum einen lief das Spiel einfach für den VfL und nicht für Real. Damit das so kam, hatte Trainer Dieter Hecking einige wegweisende Entscheidungen getroffen. Das tiefe Verteidigen, der erfolgreiche Einbau des lange verletzten Naldo, die Betreuung von Europas führendem Torjäger Cristiano Ronaldo durch seinen portugiesischen Landsmann Vieirinha, das Sechser-Dreieck aus Luiz Gustavo, Guilavogui und Arnold, und speziell der überraschende Startelfeinsatz des Konterstürmers Bruno Henrique gegen den Antisprinter Marcelo. Der im Winter gekommene Brasilianer erwies sich als eine „Waffe“, wie Hecking sagte, die Real nicht im Wölfe-Arsenal vermutet hatte.
Mit ihm und Julian Draxler auf Linksaußen gelang dem VfL erstmals in dieser Saison ein hochklassiges Konterspiel. Vor Rodriquez’Strafstoß zum 1:0 (18.) hatte Draxler bei einem Konter den als Spitze agierenden Schürrle angespielt, dem Casemiro dann in die Hacken trat. Auch Arnolds 2:0 (25.) fiel nach einem Tempokonter über Draxler und Bruno Henrique. Allerdings braucht es für eine erfolgreiche Strategie auch immer einen Gegner, der das Offensichtliche zulässt, statt es zu verhindern. So gesehen war Zinedine Zidanes Real ein angenehmer Gegner. „Wölfe gegen Schafe“, titelte Marca.
Das klingt jetzt ein bisschen pathetisch, aber für diesmal war der Ende August aus Schalke gekommene Nationalstürmer Draxler, 22, wirklich der bessere Ronaldo. Sehr stark am Ball, schnell in der Verarbeitung, noch schneller im Kopf: Wie er sein Spiel auf höchstes europäisches Niveau hob, als es darauf ankam, das war bemerkenswert. Ähnlich gilt das auch für Maximilian Arnold, 21. Das kann man über den als Spitze agierenden Andre Schürrle nicht sagen: Er arbeitete hart, lief schnell und viel, gab alles, holte den Elfer raus. Aber mit einem technisch kompetenten Stürmer hätte dieses Spiel noch ganz anders ausgehen können.
Und nun? Die Statistikabteilung hat darauf hingewiesen, dass das große Real in der Königsklasse einen Zweitore-Rückstand noch nie aufgeholt hat. Das bedeutet nichts, beruhigt aber die Nerven. Jedenfalls ist die halbgare Saison des VfL Wolfsburg plötzlich am Leben.
„Heute schaut die ganze Welt zu“, hatte eine Lokalzeitung getitelt. Das war in der Tendenz richtig, sie schaute allerdings auf Real. Doch dann haben der Fußball der Wölfe und die Welt sich überraschend berührt. Und nun schaut die Welt ins Bernabeu und ist neugierig, ob dieser VfL Wolfsburg das vielleicht schafft. „Da werden Dinge passieren, die wir uns jetzt noch gar nicht vorstellen können“, warnt Manager Klaus Allofs. Dass sie sogar passieren müssen, um Wolfsburg noch herauszuschmeißen, ist schon eine ganze Menge.
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