Nachruf auf Hans-Dietrich Genscher: Nur ein einziges Mal geliebt
Er war unverstanden, aber bewundert. Als Berufspolitiker und Diplomat setzte Hans-Dietrich Genscher Maßstäbe der Undurchsichtigkeit.
„Schreckliches Unglück: Zwei Flugzeuge sind in der Luft zusammengestoßen. In beiden saß Genscher.“ Witze über Politiker sind selten freundlich. In diesem aber schwang neben Spott auch Bewunderung mit: für einen Außenminister, der im Interesse der Entspannungspolitik zwischen Ost und West eine unermüdliche Reisediplomatie zu einem Zeitpunkt betrieb, als diese so noch nicht üblich war; und der sich dabei selbst nicht geschont hat.
Vermutlich hat Hans-Dietrich Genscher den Witz gemocht, denn so sehr viel ironische Zärtlichkeit ist ihm öffentlich im Laufe seines langen Politikerlebens nicht zuteil geworden. Zu widersprüchlich schien sein politisches Handeln, zu undurchsichtig waren seine Motive, zu selten und zu wenig ließ er erkennen, was ihn persönlich eigentlich antrieb und bewegte. Geachtet wurde er, auch bewundert und als Taktiker gefürchtet – aber geliebt? Vielleicht nur ein einziges Mal.
Am 30. September 1989 nämlich, wenige Wochen vor dem Fall der Mauer. Da trat er am frühen Abend auf den Balkon der westdeutschen Botschaft in Prag, in der mehrere Tausend DDR-Bürger wochenlang in der Hoffnung ausgeharrt hatten, ungehindert in die Bundesrepublik weiterreisen zu können. Und sprach die Worte, mit denen er in die Geschichte eingehen wird: „Liebe Landsleute, wir sind zu Ihnen gekommen, um Ihnen mitzuteilen, dass heute Ihre Ausreise in die Bundesrepublik Deutschland möglich geworden ist.“
Ein Sturm der Begeisterung brach los. Wenn es einen konkreten Zeitpunkt gibt, zu dem der Zusammenbruch der bipolaren Welt und die Öffnung des Eisernen Vorhangs nicht mehr aufzuhalten war: dann war es vermutlich dieser Augenblick. Und nicht die noch weit berühmtere Pressekonferenz des SED-Politikers Günter Schabowski, der – mit einer von ihm selbst erkennbar nicht verstandenen Mitteilung – am 9. November 1989 den ungeplanten Fall der Mauer bewirkte.
Professioneller Strippenzieher
Natürlich wären die entscheidenden Weichen auch ohne Hans-Dietrich Genscher gestellt worden. So einflussreich ist kein einzelner Politiker, dass er allein den Lauf der Geschichte bestimmen kann, schon gar nicht jemand, der nur der Außenminister eines demokratischen Staates ist.
Aber ob die friedliche Revolution ohne sein Zutun genauso friedlich verlaufen wäre, so ganz ohne Blutvergießen? Es gibt gute Gründe, das zu bezweifeln. Und wenn es keinen anderen Grund gäbe, ihm dankbar zu sein: Dieser würde genügen.
Hans-Dietrich Genscher war das, was heute gerne verachtet wird – ein Berufspolitiker. Der gebürtige Hallenser war noch nicht einmal 20 Jahre alt, als er 1946 in der damaligen sowjetischen Besatzungszone, der späteren DDR, in die Liberal-Demokratische Partei (LDP) eintrat. Nach seiner unspektakulären Umsiedlung in die Bundesrepublik – der Bau der Mauer lag noch in weiter Ferne – trat er 1952 in die FDP ein. Und zog dort schnell Strippen.
Ohne Genscher und sein Engagement für die sozialliberale Koalition wäre Willy Brandt vielleicht niemals Bundeskanzler geworden. Genscher war ein Wegbereiter des politischen Wandels in der Bundesrepublik, in der die Sozialdemokratie damals immer noch als ein wenig anrüchig galt – vielleicht wollten die „Sozen“ ja doch die sozialistische Revolution? – und von weiten Teilen der bürgerlichen Mittelschicht nicht als legitime politische Kraft akzeptiert wurde.
Freund der atomaren Bewaffnung
Aber ohne Hans-Dietrich Genscher, der unter Brandt zunächst Innenminister und nach dessen Rücktritt unter dessen SPD-Nachfolger Helmut Schmidt Außenminister war, wäre die sozialliberale Koalition auch nicht zerbrochen. Wirtschaftspolitische Vorwände dienten 1982 als Begründung für das Ende des Bündnisses. Geglaubt hat diese Argumente damals kaum jemand, inzwischen lässt sich mit einiger Bestimmtheit sagen: Der wahre Grund für den mutwillig herbeigeführten Bruch der Koalition war im Widerstand großer Teile der SPD-Basis gegen den Nato-Doppelbeschluss zu sehen. Der eine atomare Aufrüstung vorsah.
Weite Teile der Bevölkerung standen diesem Kurs ablehnend oder zumindest skeptisch gegenüber. Hans-Dietrich Genscher nicht. Er hielt ihn für richtig.
Der Preis, der für den geschmeidigen Wechsel zur Koalition mit den Unionsparteien gezahlt werden musste, war hoch – sowohl für die Person wie auch für die Partei. Das „Umfaller“-Image sind weder die FDP noch Hans-Dietrich Genscher, der seit 1974 und noch bis 1985 Parteivorsitzender war, je wieder losgeworden.
Ist das gerecht? Ja und nein. In diesem Text geht es um Genscher. Nicht um die FDP, jedenfalls nicht in erster Linie. Die Wiedervereinigung war dem westdeutschen Politiker aus dem ostdeutschen Halle ein größeres Anliegen, als ihm das selbst vermutlich lange bewusst gewesen ist. In den 60er, 70er und 80er Jahren galten alle, die öffentlich von einer Verschiebung der Grenzen sprachen, entweder als Traumtänzer – oder, weit schlimmer, als Revisionisten und potenzielle Kriegstreiber.
Rücktritt aus unbekannten Motiven
Ein Kriegstreiber ist Hans-Dietrich Genscher, der im Zweiten Weltkrieg noch als Flakhelfer eingesetzt worden war und später in Gefangenschaft geriet, niemals gewesen. Entspannung, Kompromiss, das bestmögliche Ergebnis diplomatischer Bemühungen: das war offenbar wohl sein Lebensmotiv.
Der Bundesrepublik Deutschland hätte weit Schlimmeres passieren können als ein Außenminister, der über knapp zwei Jahrzehnte hinweg um Frieden ringt. Notfalls eben sogar in zwei Flugzeugen gleichzeitig, die einander innerhalb desselben Luftraums begegnen.
Aber hätte es auch Möglichkeiten gegeben, die noch wünschenswerter gewesen wären? Ja, vermutlich schon. Nämlich: ein Außenminister, von dem das Land gewusst hätte, was er eigentlich will – und warum er etwas will. Bis heute steht nicht fest, was Hans-Dietrich Genscher veranlasst hat, Ende April 1992 seinen völlig überraschenden Rückzug vom Amt des Außenministers bekannt zu geben.
War es das Gefühl, einen schwer wiegenden, nicht wieder gutzumachenden Fehler begangen zu haben, als er Ende 1991 – mehr oder minder im Alleingang – die Anerkennung der ehemaligen jugoslawischen Teilrepubliken Slowenien und Kroatien verkündete? Wollte er sich mit den Folgen dieser Entscheidung nicht mehr auseinandersetzen? Oder gab es Gründe, die wir bis heute nicht kennen und die Hans-Dietrich Genscher mit ins Grab nimmt?
Manches spricht für die letztgenannte Möglichkeit. Hans-Dietrich Genscher konnte immer besser schweigen als reden. Und es war seine Sache nicht, viel Aufhebens von der eigenen Person zu machen.
Nicht drüber reden
Rückblick, 1972: Israelische Sportler wurden während der Olympischen Spiele in München als Geiseln genommen. Hans-Dietrich Genscher bot sich im Austausch an, was von den palästinensischen Terroristen jedoch abgelehnt wurde.
Erinnern Sie sich an Auftritte bei Kerner, Lanz, Gottschalk? Bei denen Genscher über seine damaligen Gefühle, seine Ängste, seine Familie sprach? Nein? Kein Wunder. Es gab sie nicht. Der Politiker hat weiter seinen Job gemacht. Nicht mehr, nicht weniger. Angebot abgegeben, Angebot abgelehnt. Es gab aus Sicht von Genscher keinen Grund, darüber weiter zu reden.
Ach, es gibt doch manches zugunsten von Berufspolitikern zu sagen. Falls es ein Jenseits gibt: Dann würde man dort vermutlich gerne mit Genscher streiten. Man wäre nicht überrascht, ihn zu treffen. Aber man würde eben dort auch SPD-Granden begegnen, die nicht ganz so begeistert wären über Genscher im Himmel. Denn manche von denen haben ihm bis zum Lebensende nicht verziehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Angeblich zu „woke“ Videospiele
Gamer:innen gegen Gendergaga
Lang geplantes Ende der Ampelkoalition
Seine feuchten Augen
Altersgrenze für Führerschein
Testosteron und PS
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“