Die Schießscharten am Hauptbahnhof: Fotografische Stadtbildpflege
Berlin auf Blättern
von Jörg Sundermeier
Will man sich an einem Stammtisch in Berlin schnell beliebt machen, so macht man einfach ein paar dumme Witzchen über die Neubauten, mit denen sich Berlin seit 1989 – nun ja – schmückt. Denn bekanntlich ist Berlin für seine schönen Altbauten aus der Gründerzeit berühmt. Allerdings muss man hier einschränken, dass diese Bauten, von denen erstaunlich viele die Bombardements des Zweiten Weltkrieges und die Scharmützel im absurden „Endkampf“ 1945 überlebt hatten, eigentlich allesamt längst verschwunden sein sollten. Und dass bis in die 80er Jahre hinein erstaunlich viele von diesen Bauten abgerissen worden sind. Doch auch ohne diese Abrisse sind viele Lücken im Stadtbild Berlins offen geblieben (siehe dazu Therese Teutschs kluges Buch „Unverfugt – Lücken im Berliner Stadtraum“).
Seit 1989 und der seither propagierten Normalisierung der Verhältnisse aber werden diese Lücken geschlossen und Neubauten schießen allerorten aus dem Boden. Diesen widmet sich das Buch „Neue Architektur in Berlin“ von Arnt Cobbers und Günter Schneider. Der Fotograf Schneider und der Kunsthistoriker Cobbers haben sich vor allem auf die Innenstadt beschränkt und präsentieren nun sowohl bekannte Bauten wie die Neubauten am Potsdamer, Leipziger und am Pariser Platz, die neuen sogenannten „Ministergärten“, in der die meisten Landesvertretungen zu finden sind, oder die Regierungsbauten im Spreebogen, doch auch weniger berühmte Bauten in Kreuzberg und Charlottenburg. Das Buch ist dabei ungemein aktuell, Schneider hat sogar das Alea 101 am Roten Rathaus in Szene gesetzt, das ja erst Mitte des vergangenen Jahres fertig geworden ist.
Das Buch ist in erster Linie ein Fotobuch, Schneider zeigt die neue Architektur bei Tag – und, was sehr interessant ist – auch bei Nacht, manchmal nimmt er das ganze Gebäude auf, manchmal präsentiert er nur ein Detail. Cobbers fügt den Fotos einen kurzen erklärenden Text bei, in dem er knapp auf bauliche Besonderheiten eingeht. Dabei allerdings findet er nur selten einen so kritischen Abstand wie etwa bei dem Bau der Shopping Mall Alexa, deren rosa Art-Deco-Betonteile übrigens an den roten Backstein des Polizeipräsidiums erinnern soll, das vor dem Krieg an dieser Stelle neben dem Alexanderplatz zu finden war. Immerhin aber wird bei jedem Gebäude auch das zuständige Architekturbüro benannt, sodass man weiß, wer der Schuldige ist. Oder der Künstler.
Dieser sachliche, etwas sehr eingeschränkte Kommentar lässt es allerdings zu, dass man sich selbst sein Urteil bildet und somit auch zu einem kompetenteren Urteil über die Bautätigkeit seit 1989 in Berlin kommen kann. Denn Schneiders Bilder zeigen zudem – vielleicht nicht ganz absichtlich – wie sehr die Berliner Behörden trotz der Einschränkung der Traufhöhe keine Mühe darauf verwenden, darauf zu achten, dass sich die Neubauten ins Straßen- und Stadtbild einpassen. Die Verwaltungsbauten mit Schießscharten-artigen Fenstern, die gerade völlig uninspiriert rund um den Hauptbahnhof gebaut werden, kann man so mit dem GSW-Haus an der Kochstraße vergleichen, dass seinerseits zumindest mit farblichen Reizen spielt, oder mit der Telekom-Akademie in der Tucholskystraße, deren Bau zeigt, dass man auch bei Funktionsbauten nicht zur Einheitsgestaltung verpflichtet ist.
Betrachtet man dann den Pei-Bau am Deutschen Historischen Museum oder den Wolkenriegel in der Schlesischen Straße, so sieht man durchaus, dass auch in Berlin Lehren aus den utopischen Ideen in der modernen Architektur gezogen wurden. So versöhnt dieses kleine preiswerte Buch seine Leserinnen und Leser denn doch mit den Neubauten in Berlin. Am Stammtisch kann man nun nicht mehr mitlachen.
Arnt Cobbers, Günter Schneider: Neue Architektur in Berlin. Jaron Verlag, Berlin 2015, 128 Seiten, 12 Euro
Jörg Sundermeier ist Verleger des Verbrecher Verlags und freier Autor
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