Bangen oder Hoffen Issa Hassane ist seit vier Jahren in Hamburg. Er hofft, dass er bleiben und seine Ausbildung beenden kann. Pläne macht er aber keine mehr, dafür erscheint ihm seine Situation zu unsicher: „Es ist viel wert, ein Zuhause zu haben“
Interview Annika Lasarzik
Herr Hassane, welche Pläne haben Sie für 2016?
Issa Hassane: Pläne? Ich habe keine, dafür fehlt mir jede Sicherheit. Wenn ich meine Zukunft vor mir sehe, denke ich nur noch in kleinen Schritten. Aber natürlich habe ich Träume und Wünsche, was mein Leben in Deutschland betrifft.
Welche Wünsche wären das?
Ich will in Deutschland bleiben, damit ich mir hier ein Leben in Sicherheit und Freiheit aufbauen kann. Gerade lebe ich hier mit einer befristeten Duldung, um die ich sehr kämpfen musste. Ein Jahr darf ich bleiben. Ich weiß nicht, ob mein Aufenthalt verlängert wird, ich irgendwann vielleicht sogar Asyl bekomme. Ich gebe die Hoffnung nicht auf, schließlich will ich meine Ausbildung beenden. Aber ich vermeide es auch, mir meine Zukunft so genau vorzustellen.
Sie haben eine Ausbildung zur Fachkraft für Metalltechnik begonnen. Welche Bedeutung hat die Arbeit für Sie?
Für mich bedeutet der Abschluss Unabhängigkeit. Ich hätte etwas in der Hand, das mir niemand nehmen kann. Ich könnte zeigen, dass ich etwas kann, mich später überall um eine Arbeitsstelle bewerben. Ich will nicht mehr auf die Unterstützung von Behörden angewiesen sein, ich will mein eigenes Geld verdienen. Außerdem ist es langweilig, den ganzen Tag herumzusitzen und nichts zu tun. Das macht mir schlechte Laune und ist doch sinnlos: Ich bin ja jung, ich kann noch viel lernen. Nach der Ausbildung will ich meinen Meister machen.
Sie stammen aus Niger. Warum haben Sie Ihre Heimat verlassen?
Ich bin in der Hauptstadt Niamey zur Schule gegangen, meine Eltern sind als Nomaden durch die Wüste gezogen. Finanziell gesehen hat mir nichts gefehlt, ich brauchte nie viel zum Leben. Trotzdem war ich nicht sicher: Die Lehrer waren korrupt, sie verlangten immer mehr Geld von meiner Familie, damit ich an der Schule bleiben kann. Das konnten wir uns nicht mehr leisten. Außerdem hat sich die Sicherheitslage verschärft, an den Grenzen zu Nigeria kommt es immer wieder zu Anschlägen von Boko Haram-Terroristen. Ich bin nicht gerne gegangen. Aber in Niger habe ich keine Zukunft mehr gesehen. Ich wollte ein ruhiges, sicheres Leben führen.
Sie sind nach Libyen gegangen, haben dort gearbeitet, bis 2011 der Bürgerkrieg ausbrach.
Ich habe zwei Jahre lang gutes Geld verdient, war Kellner, Kurier, Gärtner – jeder Job war mir recht, solange ich beschäftigt war und unabhängig sein konnte. Ich hatte eine eigene Wohnung in Tripolis, viele Freunde. Heute vermisse ich diese Zeit sehr. Dann hat sich alles verändert, die Gewalt war plötzlich überall. Mein Viertel wurde während der Nato-Luftangriffe fast komplett ausgebombt. Das Schreien der Nachbarsfrauen und Kinder unter meinem Küchenfenster liegt mir heute noch in den Ohren.
Wann haben Sie den Entschluss gefasst, nach Europa zu fliehen?
Eines Tages verfehlte eine Bombe nur knapp mein Haus. Ich hatte Angst um mein Leben und wohin hätte ich sonst gehen sollen? Ich wollte in den Niger zurück, doch die Grenze war bereits dicht. Die Grenzkontrollen an der Küste wurden hingegen aufgehoben, das hat sich schnell per Mundpropaganda verbreitet. Also packte ich einen Koffer mit dem Nötigsten, Geld, Kleidung, so etwas. Ich habe nicht lange überlegt, es gab nur diesen Weg für mich.
Sie sind über das Mittelmeer geflohen. Wie war die Überfahrt?
Die Bilder dieser Reise würde ich gern aus meinem Kopf löschen. In dem Holzboot saßen 300 Menschen, dicht gedrängt auf zwei Etagen. Man konnte nicht schlafen oder richtig sitzen. Wer unten im Boot saß, bekam bald keine Luft mehr. Sehr viele Menschen sind erstickt. Es fällt mir schwer, darüber zu sprechen.
Flüchtlinge, die zuerst in Italien ankommen, können laut Dublin-Verordnung dorthin zurückgeschickt werden. Können Sie das verstehen?
In Italien ist zwar kein Krieg, trotzdem bedeutet das Leben dort Gewalt und Elend für Flüchtlinge. Nach meiner Ankunft auf der Insel Lampedusa lebte ich vier Monate in einem Aufnahmelager in Caserta. Ich dachte, ich wäre im Gefängnis. Anwälte oder Dolmetscher sind mir nie begegnet, was das Wort „Asyl“ bedeutet, dass ich Rechte habe, erfuhr ich erst in Deutschland. Wenn wir einen Arzt sehen wollten, hat niemand reagiert. Ich begann, Handtücher auf dem Schwarzmarkt zu verkaufen. Eines Tages erwischten mich Polizisten dabei, sie schlugen mich und drohten, mich zurück nach Libyen zu schicken. Ich hatte Panik. Um vier Uhr morgens bin ich aus dem Hotel geflohen und mit der Bahn nach Rom gefahren.
Im Januar 2012 sind Sie nach Hamburg weitergereist – warum gerade diese Stadt?
„In Deutschland ist es besser“, das hatte ich von anderen Flüchtlingen in Italien gehört. Also habe ich mir ein Ticket nach München gekauft. Dort habe ich andere Afrikaner auf der Straße angesprochen und um Hilfe gebeten. Schließlich hat mir ein Mann geraten, nach Hamburg zu fahren: „Da ist es besser für dich, hier wirst du schneller zurückgeschickt.“ Kurz vor Mitternacht stand ich dann am Hamburger Hauptbahnhof. Es war kalt, ich hatte eine Grippe und keine Kraft mehr. Also habe ich den ersten Polizisten angesprochen, der mir begegnet ist. Ich habe meine Papiere gezeigt und um Hilfe gebeten.
Hatten Sie keine Angst, Ihre Papiere zu zeigen? Andere Lampedusa-Flüchtlinge haben sich monatelang geweigert, sich bei den Behörden zu melden.
Wenn man keine andere Wahl hat, ist kein Platz für Angst. Ich war krank, allein, wollte einfach nur einen Platz zum Schlafen und einen Arzt finden. Außerdem bittet man hier doch die Polizei um Hilfe, wenn man ein Problem hat, oder nicht?
Können Sie den Kampf der Flüchtlinge für ein kollektives Bleiberecht nachvollziehen?
Ich selbst war nicht an den Protesten beteiligt, da ich mich schon früher in Hamburg gemeldet hatte und mit der Schule beschäftigt war. Aber ich kann die Angst verstehen. Italien ist kein sicheres Land für uns. Als ich mich gemeldet habe, wusste ich noch nicht, was ein Asylverfahren bedeutet, von Dublin II hatte ich nichts gehört. Die Angst vor der Abschiebung ist immer da. Ich habe oft gedacht, dass ich lieber in Libyen gestorben wäre.
21, stammt aus Niamey in Niger. Seit 2009 arbeitete er in Libyen, während des Bürgerkriegs 2011 floh er zunächst nach Italien, wo er ein halbes Jahr in Asyllagern gelebt hat. Seit Januar 2012 lebt er in Hamburg, seit Oktober 2015 macht er eine Ausbildung zur Fachkraft für Metalltechnik im Jugend- und Bildungswerk der Arbeiterwohlfahrt. Kurz zuvor hatte er eine Duldung für ein Jahr bekommen. Er lebt derzeit in einem Jugendwohnheim in Hoisbüttel und sucht eine eigene Wohnung.
Wie ist es Ihnen nach Ihrer Ankunft in Deutschland ergangen?
Ich habe zunächst im Kinder- und Jugendnotdienst in Hamburg-Alsterdorf gelebt und schnell Deutsch gelernt, die Schule besucht. Mein Asylantrag wurde dann aber nach über einem Jahr abgelehnt, ich sollte nach Italien abgeschoben werden. Zu der Zeit stand ich kurz vor meinem Realschulabschluss. Es gab viele Gerichtstermine, viel Bürokratie. Bis ich die Duldung bekommen habe, war es ein langer Kampf, ich konnte mich kaum aufs Lernen konzentrieren. Als ich dann den Ausbildungsplatz durch die Arbeiterwohlfahrt bekommen habe, konnte ich es nicht fassen.
War diese Form der Unterstützung neu für Sie?
Absolut. Dass Menschen dir helfen, ohne dafür etwas von dir zu erwarten, habe ich zuvor nie erlebt. In Italien wirst du als Flüchtling auf der Straße bespuckt und verprügelt. Manchmal kommen zwar ältere Männer auf dich zu, wollten dir Geld geben – aber eigentlich halten sie dich für einen Stricher, nutzen deine Not aus. Manche Jungs gehen aus Verzweiflung auf so ein Angebot ein, ich habe mich immer geschützt, wollte meine Würde bewahren.
Im Moment kommen viele Flüchtlinge nach Deutschland. Die Hilfsbereitschaft ist groß, andererseits gibt es Angriffe auf Flüchtlingsheime. Welche Gefühle löst das in Ihnen aus?Ich kenne die Vorurteile. In der Bahn wird oft über mich getuschelt, dann fallen Sprüche wie „Diese Ausländer, die wollen nur unser Geld“. Ich höre dann einfach weg, auch wenn es mich wütend macht. Wer vor Krieg oder Armut flieht, sucht Ruhe, Freiheit und Sicherheit. Auch die Menschen, die jetzt nach Deutschland kommen, würden alles für diesen Traum tun: lernen, arbeiten und sich anstrengen. Aber soweit denken viele Menschen gar nicht. Frieden und Sicherheit ist für sie normal, sie können sich nicht in uns hineinversetzen.
Gibt es Momente, in denen Sie sich angekommen fühlen?
Wenn ich mit meinen Freunden zusammen bin. Wir machen oft Musik, ich singe gerne. Wenn ich arbeite, denn dann habe ich eine Aufgabe, einen festen Platz. Aber vieles verstehe ich nicht, ich fühle mich oft sehr fremd. Die Menschen sind so konzentriert, immer in Eile. Auf der Straße laufen sie schnell aneinander vorbei, tippen auf ihren Smartphones, nur um Blickkontakt zu vermeiden. Wenn du etwas lauter sprichst, wirst du komisch angeguckt. Andere Jugendliche erzählen mir oft von Familienstreitereien, sie schimpfen über ihre Eltern. Das verstehe ich nicht: Die Familie ist das Wichtigste im Leben, die eigenen Eltern muss man immer mit Respekt behandeln.
Sie telefonieren gelegentlich mit Ihren Eltern. Wie beschreiben Sie ihnen Ihr neues Leben in Deutschland?Ich sage ihnen, dass ich sicherer bin als in Niger, Libyen oder Italien. Freiheit habe ich allerdings nicht gefunden. Das Leben hier ist sehr kompliziert, es gibt viele Regeln und immer eine Hürde, die mich aufhält. Um die Duldung musste ich hart kämpfen, die Ausbildung kann ich vielleicht nicht beenden. Jeden Tag habe ich Angst vor der Abschiebung. Deutschland ist ein gutes Land, aber wer nicht in Europa geboren ist, hat es schwer. Ich würde meiner Familie nie empfehlen, nachzukommen. Die Reise wäre zu hart, besonders für meine Mutter und meine jüngste Schwester, die gerade fünf Jahre alt ist. Es ist viel wert, ein Zuhause zu haben, einen Ort, wo man hingehört.
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