: Zu wenig Hardware
Mit Dienstleistungen allein sei kein Staat zu machen, meint der Industrieverband und fordert Unterstützung des verarbeitenden Gewerbes
von gernot knödler
Die Lage muss dramatisch sein, wenn die Industrie der Umweltbewegung die Slogans klaut: „HAW ist überall!“, warnte Werner Marnette, Chef des lokalen BDI-Ablegers „Industrieverband Hamburg“ (IVH) gestern mit Blick auf das vor der Schließung stehende Hamburger Aluminium-Werk. Stand vor 30 Jahren die von der Industrie bedrohte Umwelt im Zentrum der Aufmerksamkeit, wie sie sich in der Chemie-Katastrophe von Seveso verdichtet hat, ist es heute die Industrie, die sich bedroht sieht, und um Unterstützung bittet. Nur durch ein Wachstum der Industrie sei die „Seuche Arbeitslosigkeit“ zu bekämpfen, postulierte Marnette. Eine reine Dienstleistungsökonomie könne nicht funktionieren. Der Senat, der seit langem den Dienstleistungssektor in den Mittelpunkt seiner Bemühungen gestellt hat, müsse das bei seiner Wirtschaftspolitik stärker berücksichtigen.
Um die Bedeutung der Industrie für die Hamburger Wirtschaft deutlich zu machen, hat der Verband gestern eine Bestandsaufnahme vorgelegt und mit vier „Kernforderungen“ verknüpft: Der Senat müsse die Verkehrsinfrastruktur sofort verbessern und weitere Wachstumsfelder (Cluster) definieren, auf denen wirtschaftliche Aktivitäten vernetzt und gefördert werden. Er müsse mehr Einfluss in Berlin und Brüssel ausüben und die Verwaltung müsse wirtschaftsfreundlicher werden. Die Ankündigung von Bürgermeister Ole von Beust, er werde Hamburg „zur wirtschaftsfreundlichsten Stadt Deutschlands“ machen und das Wirken des mehrfach von ihnen belobigten Wirtschaftssenators Gunnar Uldall (beide CDU), genügen den Managern nicht.
So klingt das Hohelied der Hamburger Industrie: 15 Prozent (108.000) aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten arbeiten im verarbeitenden Gewerbe einschließlich des Bauhauptgewerbes. Dort entstehen 14,5 Prozent der Bruttowertschöpfung. Die Industrie stellt 35 Prozent aller Ausbildungsplätze, sorgt für 20 Prozent des Güterumschlags im Hafen und für 30 Prozent des Umsatzes der in Hamburg ansässigen unternehmensorientierten Dienstleister. Sie investiere 800 Millionen Euro pro Jahr in die Entwicklung neuer Produkte, habe in den vergangenen zehn Jahren 500 Millionen Euro in den Umweltschutz gesteckt und sorge für kräftig sprudelnde Steuereinnahmen.
Gleichwohl liege der Anteil des verarbeitenden Gewerbes an der Bruttowertschöpfung in Hamburg niedriger als im Bundesdurchschnitt (24 Prozent), sagte Marnette. Die Schließung eines Betriebes wie des Aluminium-Werks sei besonders misslich, weil jeder Industriearbeitsplatz „zwei bis drei“ Arbeitsplätze sichere.
Ein ähnliches Unglück könnte sich nach Ansicht des IVH vermeiden lassen, wenn der Senat die Interessen der Industrie auf Bundes- und Europaebene stärker zur Geltung brächte. „Energiepolitik ist Standortpolitik“, sagte IVH-Vorstandsmitglied Nikolaus Broschek. Hohe Strompreise führten zu Wohlstandsverlusten, weshalb die Ökosteuer mit den CO2-Emissionszertifikaten verrechnet und der Atomausstieg aufgegeben werden sollte. Der Chemieindustrie drohe mit der europäischen Chemikalien-Richtlinie REACH das gleiche Schicksal wie der energieintensiven Industrie, sagte Marnette.
Die ungenügende Verkehrsinfrastruktur verursache volkswirtschaftlich Stau-Kosten in Milliardenhöhe, kritisierte Karl Gernandt vom Zementhersteller Hocim. Schnelle Abhilfe sei nur möglich, wenn der Staat den Bau und Betrieb mancher Verkehrswege, etwa der Hafenquerspange, in private Hände lege. Überdies müsse die Planung und Genehmigung solcher Projekte schneller werden.
Auch die Vergabe von Grundstücken und die Förderung spezieller Industriezweige könne verbessert werden, wie ein Vergleich mit Göteborg, Malmö und Barcelona zeige. Neben den im Leitbild Wachsende Stadt genannten Clustern Luftfahrtindustrie, Nanotechnologie und Life Science Business sollten auch die martitime Wirtschaft, die Vorleistungs- und die Kraftfahrzeugindustrie besonders gefördert werden.
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