: Aufklärung, Gebet und die antisäkulare Behauptung
EVERGREEN Braucht es nach den Anschlägen von Paris ein Bekenntnis zu „Werten“?
Es gibt ja keine belastbaren Zahlen, aber man irrt nicht, sagt man, in unseren grün-alternativen Kreisen glaubt man auch daran, dass es für ein halbwegs zivilisiertes Miteinander in dieser Gesellschaft Kirchen brauche. Auf jeden Fall Religionen. Denn Menschen, die glauben, sind bessere als jene, die es nicht tun. Solche also, die das Diesseitige höchst belobigen und auf Göttliches im Allgemeinen nicht viel geben oder höchstens im Privaten.
Diese Debatte ist ein Evergreen, aber seit den Pariser Terroranschlägen ploppt sie wieder hoch, ähnlich einer fauligen Blase, die, nach oben gestiegen, ihre zwiespältigen Gerüche verbreitet. Geführt wird sie auf dem Online-Informationsdienst Perlentaucher, national wie international.
Der Chef des Forums, Thierry Chervel, antwortete dort vorige Woche auf einen Artikel vom SZ-Essayisten Gustav Seibt. Dieser hatte am 18. November gefragt (kurz gefasst): „Ist ‚Aufklärung‘ ein ‚Wert‘, für den wir kämpfen sollten?“ Und die Frage selbst verneint – ähnlich wie Katharina Hacker, die auf dem Essay-Platz des Perlentaucher zuvor ihren Kollegen verteidigt. Auch für sie „gehe es „überhaupt nicht um Werte im Kontext solcher Anschläge, sondern um Gesetze, die – womöglich rascher und klarer – durchgesetzt werden müssten“.
Die anderen „Märtyrer“
Ein Streit, der sich kleinlich ausnehmen könnte angesichts der mörderischen Energie, mit der Fellows des IS in Europa sich an ihr Werk – ob religiös gesinnt oder nicht – machten. In Wirklichkeit verbirgt sich dahinter ein Diskurs, der recht eigentlich mithilfe der IS-Anschläge den Anspruch des Religiösen auf wärmende (in Wahrheit: erkältende) Deutungsmacht ins Spiel bringen will. Schon Navid Kermani hat in seiner Friedenspreisrede in der Frankfurter Paulskirche darüber gesprochen, dass das wichtigste Mittel gegen den Kampf des IS die Wiederaneignung von religiösen Bilderschätzen sei, von Glaubensformen, um überhaupt von den sinnsuchenden IS-Fightern für voll genommen zu werden.
Als Kermani in der Paulskirche am Ende seiner Ansprache zum Friedensgebet das Publikum aufzustehen bat, blieb bis auf wenige keiner sitzen: Thierry Chervel, der Reporter vom Perlentaucher. Seine Wahl, am Gebet nicht teilzunehmen, erklärte er tags darauf in einem instruktiven Text: eine religionsneutrale Auszeichnung wie die für Kermani in einer ehemaligen Kirche sei eine kulturelle Anordnung, die gerade zu einem Bekenntnis nach Säkularität, also nach Religionsdistanz, rufe. Jetzt nach den Pariser Anschlägen erwiderte er Gustav Seibt mit einem Plädoyer für „Werte“: „Die Werte demokratischer Gesellschaften sind Errungenschaften, gewonnen in sozialen Kämpfen und Kämpfen um Emanzipation. Blogger aus Bangladesch, Homosexuelle aus Russland, Feministinnen in Irland könnten Seibt vielleicht bestätigen, dass auch der Säkularismus seine ‚Märtyrer‘ hat. Aber so sieht Religion die Aufklärung nun mal am liebsten –als bloße Folge sinnloser Entgötterung, als unschön, flach, eine bloße Verfahrensregel.“
Dabei muss man gar nicht ins Ausland schweifen, um festzustellen: Alles, was an der Bundesrepublik lebbar, individualisierungsfähig und attraktiv (für Flüchtlinge) wurde, ist gegen die religiösen Apparate errungen worden. Und die Behauptung, dieses Land sei wertmäßig ein beliebiges, stimmt ohnehin nicht: Solidarität, das Füreinandereinstehen ist eine Tugend – die aber erst Wert bekommt, wenn sie eine ohne Zwang bleibt. Jeder und jede kann aussuchen, ob sie oder er solidarisch sein möchte. Werte sind wichtig: als roter Faden für Individuen. Religiöses braucht es vielleicht, aber nicht für das Gemeinsame. Jan Feddersen
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