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Kolumne Die eine FrageDie Stimmung kippt und kippt nicht

Peter Unfried
Kolumne
von Peter Unfried

Gespräche jenseits intellektueller Arschgeigen in der DB-Lounge des Berliner Hauptbahnhofs: Welches Land wollen wir sein, Harald Welzer?

Die meisten Menschen in Deutschland wollen in einer offenen Gesellschaft leben. Foto: dpa

D er Sommer 2006 war keine Gesellschaftstransformation, sondern eine rauschende Fußballparty. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Selbst wenn der DFB diese WM nicht gekauft hat: Verloren ist sie so sehr oder so wenig wie jede schöne Party.

Der Sommer 2015 dagegen ist eine anhaltende gesellschaftliche Bewegung. Eine aktive Bürgergesellschaft hat das Planungsversagen der Bundespolitik und der EU in der Flüchtlingsentwicklung durch Anpacken ausgeglichen und eine offene Gesellschaft aktiv gelebt.

„Eine historische einzigartige Situation“, sagt Harald Welzer. Er ist gerade in der DB-Lounge im Berliner Hauptbahnhof eingelaufen. Verspätet. Kommt von Hannover, will nach Paris.

Gegen Rechte im „vielleicht fünfstelligen Bereich“, sagt Welzer, stünden „40 Millionen Deutsche, die eine offene Gesellschaft wollen“. Aber statt das zu feiern und diese Bewegung zu stärken, werde von der Politik überwiegend im 20. Jahrhundert und in Nationalstaaten gedacht (Überwachung, Kontrolle, Grenzen). Von den Medien ständig über Pegida und Nazis berichtet. Und permanent das Gequatsche, dass die „Stimmung“ kippe oder kippen könne.

taz.am wochenende

Flüchtlinge haben viel verloren und müssen das betrauern dürfen, sagt der Psychoanalytiker Vamik Volkan. Ein Gespräch darüber, was die Flucht mit der Seele macht, lesen Sie in der taz.am wochenende vom 12./13. Dezember 2015. Außerdem: Rainer Wendt ist Deutschlands lautester Polizist und nie um eine rechte Parole verlegen. taz-Autor Martin Kaul hat den Gewerkschaftsboss begleitet. Und: ein Portrait des schmächtigen Hahns Frank Sinatra – zum hundertsten Geburtstag. Am Kiosk, eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo.

Welches Land wollen wir sein?

Welzer, 57, war Professor für dies und das, aber das Akademische schien ihm zu nichts mehr zu führen. Er gründete Futurzwei, eine Stiftung, die sich gesellschaftlicher Transformation verschrieben hat. Mittlerweile gehört er zu den sichtbarsten öffentlichen Intellektuellen des Landes. Jetzt hat er zusammen mit Alexander Carius vom Thinktank adelphi research eine Veranstaltungsreihe am Start, in der die aus Flüchtlingsbewegung und islamistischem Terror folgende Kernfrage für 2016 besprochen wird: „Welches Land wollen wir sein?“

Die These lautet: Bevor man über Grenzen, Obergrenzen oder Schweinefleischzwang spricht, muss man sich erst einmal über die grundlegende Frage verständigen: Offene Bürgergesellschaft oder nicht? Die ersten Hyperkritiker haben schon draufgehauen, dass mal wieder der übliche Kreis der Superchecker (Cohn-Bendit, Leggewie, Precht, Limbach, Wallraff, Neiman, Lobo) daherkomme und nun auch noch der Gesellschaft das Sprechen verordnen wolle. Ist nicht, sagt Welzer. „Es sollen nicht Intellektuelle das Thema vorgeben, sondern alle sollen reden.“ Analog. Wenn sie denn das Bedürfnis haben.

Im Schauspiel Frankfurt musste man ins Große Haus umziehen, über 600 kamen. Kommenden Samstag ist Köln und tags darauf kommt Berlin (die-offene-gesellschaft.de/) dran. Es gibt keine Vorgaben, aber es zeichnet sich ab, was auch beim taz-Gespräch in Leipzig vergangenen Montag auffiel: „Wir“, um mal diesen Hilfsbegriff zu benutzen, können kaum über uns selbst sprechen, außer in Abgrenzung. Die einen versuchen sich sichtbar zu machen, indem sie sich von Flüchtlingen abgrenzen. Die anderen, indem sie sich von Flüchtlingsabgrenzern abgrenzen.

Das eigene Weiß

Was für eine politische Identität wichtig ist, aber eben auch nur den anderen als schwarz charakterisiert (siehe die übliche Grünen-Predigt.) Das eigene Weiß ist eine Leerstelle.

Doch um zu wissen, wie man nicht sein will, muss sich auch eine Gesellschaft der Individualisten darauf verständigen, was für sie wirklich zählt. Nicht theoretisch, sondern: Wofür sie sich real engagiert. Dafür darf man sich von der Politik nicht einen wöchentlich wechselnden Erregungsknochen aufschwatzen lassen. Also, erstens: Machen. Zweitens: Sprechen. Nicht über die. Über uns. Das Wogegen muss aus dem Wofür folgen – und nicht umgekehrt.

„Ich bleibe dabei, wir erleben eine Sternstunde der Demokratie“, sagt Harald Welzer. Und ich bleibe dabei, dass meine Stimmung nicht kippt.

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Peter Unfried
Chefreporter der taz
Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried
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4 Kommentare

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  • "Was für eine politische Identität wichtig ist, aber eben auch nur den anderen als schwarz charakterisiert (siehe die übliche Grünen-Predigt.) Das eigene Weiß ist eine Leerstelle."

     

    Somit wäre das 50% grau das Wahre?

     

    Die Mitte der Wähler ist auf jeden Fall in Bewegung und ich bezweifele das Intelektuelle Ansprachen diese erreichen.

     

    Popolismus greift um sich - schlimm ja!

     

    Aber wie darauf antworten?

    • 2G
      29482 (Profil gelöscht)
      @Justin Teim:

      PopOlismus greift um sich..den Knaller heben Sie sich fürs Ende auf. Mir ist fast die Tasse aus der Hand gefallen.

       

      Witziges Wort

  • Peter U. schreibt sich die Finger wund - &

    Tut solches kund:

     

    "…Der Sommer 2006 war keine Gesellschaftstransformation, sondern eine rauschende Fußballparty. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Selbst wenn der DFB diese WM nicht gekauft hat: Verloren ist sie so sehr oder so wenig wie jede schöne Party.…"

     

    Schonn - &

    Schön zu wissen - & da muß man

    Erst mal drauf kommen - odr¿!

    Keine Frage.

    Schöner kann man das nicht sagen.

    Eine Frage - was?

     

    Kippschalter sind ein-aus-Schalter.

    Oben - hatte jemand vergessen -

    Den zu kippen - keine Frage.

    Wie der Rest - Kippen.

  • Herr Welzer hatte schon durchaus brauchbare Ansätze geliefert, auch Futurzwei muß nicht schlecht sein, wenngleich auch mir nicht einleuchtet, was Cohn-Bendit oder Leggewie noch zum Fortschritt beitragen könnten.

    Das Problem liegt in der Verleugnung des Klassenkampfs. Michael Braun hat das hier gerade deutlich gemacht (sich allerdings um den Begriff gedrückt): http://www.taz.de/Essay-Rechtsparteien-in-Europa/!5256959/

    Der "ehrliche" Trump hat gesagt, was tatsächlich gerade stattfindet: Klassenkampf von oben. Da kann es dem Kapital nur recht sein, wenn die am meisten Ausgebeuteten, Unterdrückten, Marginalisierten sich den Rechtspopulisten anschließen. Die Kapitalisten und ihre Gehilfen können dann sicher sein, daß es trotz aller antikapitalistischen Rhetorik am Ende immer gegen die Minderheiten gehen wird. Sie können sicher sein, daß unter rechtspopulistischer "Betreuung" sich die Unterdrückten niemals gegen sie selbst, die Unterdrücker, erheben werden.

    Deshalb bin ich skeptisch bei Welzers Initiativen. Ist ihm bewußt, daß er sich dem derzeit tobenden Klassenkampf nicht verschließen kann? Nur dann nämlich hätten linke Bewegungen eine Chance. So lange sie im bürgerlich-mittelständischen Wohlfühlbereich verharren, müssen sie zwangsläufig die Ärmsten ignorieren. Was ihren Abstand zu diesen noch vergrößert. Es kommt also auf den Klassenkampf von unten an. Wird er ignoriert, unterdrückt, totgeschwiegen - dann kompensiert er seine berechtigte Wut im Haß auf Minderheiten. Das scheinen mir die "Welzers" noch nicht erkannt zu haben.