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Leuchten der Menschheit von Christiane Müller-LobeckGewalt in realen und fiktiven Parallelwelten

Gewalt hat keine Ursachen. Sie setzt keine Ideologie voraus, die sie rechtfertigt, und auch keine besonderen Vorprägungen der Täter. Um sich auszubreiten, braucht sie nichts als Zonen, in denen sie nicht geahndet wird. Das schreibt der Historiker Jörg Baberowski in „Räume der Gewalt“ (S. Fischer, 2015). Das Buch liest sich wie ein Abschlussbericht zu seinen Studien über die Gewaltverbrechen der Stalinzeit, „Der rote Terror“ (2003) und „Verbrannte Erde“ (2012). Nur ist es dafür viel zu schockierend anschaulich geschrieben.

„Mehr als fünfzehn Jahre habe ich mich mit den Schrecken der stalinistischen Gewaltherrschaft beschäftigt. Diese Erfahrung hat mich gelehrt, dass Menschen zu allem fähig sind, wenn sie sich in einem Raum bewegen, in dem Gewalt nicht verboten, sondern geboten ist. Und sie hat mich davon überzeugt, dass man über die Wirkung der Gewalt nichts erfährt, wenn sie nicht als blutiges Geschehen empfunden wird.“

Unvorstellbares begehen

Man kann sich auch durch den Film „Beasts of No Nation“ (auf Netflix) auf die Frage bringen lassen, ob Gewalt auf der Seite derjenigen, die sie ausüben, Ursachen braucht oder bloß Situa­tio­nen. Regisseur Cary Fukanaga, der unter anderem die Regie bei der ersten „True Detective“-Staffel besorgte, hat das Land, den Staat („Nation“), in dem ein kleiner Junge als Kindersoldat Unvorstellbares begeht, bewusst im Unkonkreten gelassen. Eine intakte Familie, wenn auch nicht besonders reich, eine liebevolle Atmosphäre, ein keineswegs verrohtes soziales Umfeld – und trotzdem wird kurz darauf aus dem Jungen eine Bestie. Dazu genügen eine Situation, in der die Gewalt straflos begangen werden kann, und die Einflüsterungen des von Idris Elba gespielten Kommandanten, das Opfer sei schuld am Tod der Eltern des Jungen.

An die jungen Männer aus Europa beim „Islamischen Staat“ darf jetzt durchaus gedacht werden. Auch die Attentäter von Paris, seien sie noch so deprimiert oder erbost wegen ihrer mangelnden Partizipationsmöglichkeiten in der französischen oder belgischen Gesellschaft, brauchen vermutlich eine „Gewalttaufe“ in Syrien. Erst dann können sie losziehen und mitten in einer weitgehend friedlichen westlichen Metropole aus unmittelbarer Nähe auf Menschen schießen.

Im Kino wurde von diesem „So ist der Mensch“ oder vielmehr „So kann er sein“ oft erzählt. Martin Scorsese hat das in beinahe allen seinen Filmen getan. Nur irgendwie ist es nicht angekommen, dass Gewalt in Parallelwelten stattfindet. Vielleicht deshalb, weil das Kino suggeriert, es hätte die richtige Formsprache, um zwischen den Räumen der Gewalt (Leinwand) und der Zivilisation (Zuschauerraum) zu vermitteln, und könne so Gewalt einsehbar machen.

Und welche Rolle spielt der Staat bei Baberowski? Er kann Gewalt eskalieren und, wie der NS-Staat, systematisieren und institutionalisieren. Jedoch: „Jahrhundertelang haben Menschen einander verletzt und getötet, und nichts wird sie davon abhalten, es auch in Zukunft zu tun. Wir sind verletzungsmächtig und verletzungsoffen, und weil es so ist, müssen wir uns voreinander schützen: durch Konventionen und Regeln und durch Waffen, mit denen ihre Anerkennung jederzeit erzwungen werden kann.“ Baberowski gilt, darin ist er mit seinem Historikerkollegen Timothy Snyder („Black Earth“) auf einer Wellenlänge, der Staat mit seinem Gewaltmonopol als unverzichtbar – er schützt seine Bürger. Sind die beiden jetzt Konservative?

Noch vor den Morden in Paris mischte sich Baberowski in die Debatte über Flüchtlinge ein und gab zu bedenken, ob man nicht weiter zwischen Asyl und Arbeitsmigration unterscheiden sollte. Lasse man alle unterschiedslos ins Land, die das wollten, gefährde das den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Deutschland und die europäische Einheit. Es dürften auch die in seinem Buch geschilderten Abgründe sein, die ihm verbieten, sich optimistischer zu zeigen. Er hat nicht geschrieben, das muss man betonen, mit den Flüchtlingen kämen Attentäter nach Europa.

Die Autorin ist freie Journalistin in Hamburg

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