Der neue Kiez der taz: Am kürzeren Ende der Friedrichstraße
Seit einer Woche baut die taz ihr neues Haus. Der neue Kiez gilt als schwierig. Viele Arme leben oft in einer viel zu kleinen Wohnung. Ein Spaziergang.
Dienstagnachmittag, am Anfang der Friedrichstraße. Der Checkpoint Charlie ist nur wenige Schritte entfernt, das alte Zeitungsviertel gleich um die Ecke. Und doch herrscht hier im Besselpark eine geradezu dörfliche Stimmung: Ein Hundehalter geht Gassi; zwei Touristen wollen wissen, wie sie zum Jüdischen Museum kommen. Einfach durch die schmale Gasse am Häuserblock entlang, lautet die Antwort. Gerade noch Kreuzberg, fast schon Mitte: ein Durchgangsort ist das hier, eine Lücke.
Auf dieser Leerstelle steht ein provisorisch gezimmerter Holzbau mit Buchstaben, die in den Himmel reichen und das Wort „Bauhütte“ bilden. Der Kölner Dom hat seine Dombauhütte, die Südliche Friedrichstadt hat auch eine. Denn auf den Brachen rund um die Akademie des Jüdischen Museums, die in die Großmarkthalle gezogen ist, soll ein neues Kreuzberg entstehen. Mittendrin: die taz.
„Lange Zeit hat man die Südliche Friedrichstadt mit dem Mehringplatz gleichgesetzt“, sagt Florian Schmidt, „und damit war alles irgendwie sozialer Brennpunkt.“ Schmidt ist Stadtsoziologe. Für den Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg hat er das Konzept für ein Kunst- und Kreativquartier entwickelt. „Bald wird das Gebiet sein Gesicht verändern“, verspricht Schmidt. „Wenn hier bis 2017 die neuen Gebäude stehen, kommen auch Cafés, Läden, Gewerbe, neue Bewohner.“ Dann werde der verschlafene kleine Besselpark die Mitte der Südlichen Friedrichstadt. Und der Mehringplatz ihr Entree.
Viele Junge leben hier
Bislang ist das Quartier um den Mehringplatz nichts weniger als das, sondern eher eine Sackgasse: kaum Grün, viel sozialer Wohnungsbau. 5.500 Einwohner, verteilt auf 2.500 Haushalte, ballen sich auf 25 Hektar Fläche. Der Kiez ist jung: 22,4 Prozent sind unter 18 Jahre alt, stadtweit sind es knapp 15 Prozent. Am Mehringplatz gibt es aber auch mehr Kinderarmut als überall sonst in Berlin. 70 Prozent der unter 15-Jährigen sind Empfänger von Transferleistungen. Den Eltern, viele von ihnen eingewandert aus der Türkei oder dem Nahen Osten, geht es kaum besser: Rund 22 Prozent der erwerbsfähigen Bewohner sind arbeitslos.
Bald soll hier vieles anders werden. Zu den neuen Gebäuden, die im „Kreativquartier“ am Besselpark entstehen, gehört auch das neue Verlagshaus der taz. 2017 soll es fertig sein, am Montag wurde mit dem Ausheben der Baugrube begonnen. Für taz-Geschäftsführer Karl-Heinz Ruch hat das Quartier schon jetzt sein Gesicht verändert. „Es gibt hier das Forum Berufsbildung mit den Cafés in der Charlottenstraße ebenso wie das Edelrestaurant Nobelhart & Schmutzig. Das alles wird durch die Bebauung noch befördert.“ Ruch sieht das als eine überaus positive Entwicklung. „Da kommen Leute, die sind gleichzeitig Investoren und Nutzer. Das stärkt die Identifizierung mit den Projekten, aber auch mit der Umgebung.“
Historie: Die Friedrichstadt ist neben dem Friedrichswerder und der Dorotheenstadt Teil der ersten barocken Erweiterung der Doppelstadt Berlin-Cölln. Benannt ist sie nach Friedrich III., der nach seiner Krönung 1701 Friedrich I., König in Preußen war. Als ihr Gründungsjahr gilt 1691. Sie reichte im Süden bis zum Rondell, später Belle-Alliance-Platz, heute Mehringplatz.
Eingemeindung: Als im Jahr 1920 Groß-Berlin mit seinen Bezirken gebildet wurde, kam der südliche Teil der Friedrichstadt neben der Tempelhofer Vorstadt und der Luisenstadt zu Kreuzberg.
Sanierung: Nach den Kriegszerstörungen infolge des Bombenangriffs am 3. Februar 1945 wurde die Südliche Friedrichstadt ab den 60er Jahren zum Schauplatz des sozialen Wohnungsbaus. Seit 2011 ist die Südliche Friedrichstadt Sanierungsgebiet. Es gibt auch ein Quartiersmanagement.
Bevölkerung: Im Gebiet zwischen Rudi-Dutschke-Straße, Wilhelmstraße, Landwehrkanal und Alter Jakobstraße leben 11.500 Menschen. Im Sanierungsgebiet sind 72 Prozent der unter 15-Jährigen Empfänger von Transferzahlungen. (wera)
Wer heute durch die Südliche Friedrichstadt schlendert, sucht vergeblich ein Zentrum, einen Ort, der stellvertretend steht für das Quartier zwischen Rudi-Dutschke-Straße im Norden, dem Mehringplatz im Süden, der Lindenstraße im Osten und der Wilhelmstraße im Westen. Anders als die Kreuzberger Gründerzeitquartiere wurde diese nordwestliche Ecke Kreuzbergs bei einem Bombenangriff am 3. Februar 1945 weitgehend zerstört. Später dann wurde sie zum Experimentierfeld für den sozialen Wohnungsbau und die Internationale Bauausstellung (IBA) in den 1980er Jahren.
Kippenrauch und altes Fett
Die Mütter mit Kopftuch und die Biertrinker, die einige Meter weiter an der Friedrichstraße auf Bänken sitzen, schauen auf eine Reihe schmaler IBA-Stadthäuser mit Terrassen. Und die 70er-Jahre-Blöcke am Mehringplatz, die eine kurze Fußgängerzone einfassen: Supermarkt, Wettbüro, ein Integrationshaus mit verschiedenen Sozialinitiativen. Dazwischen ein Wochenmarkt mit Billigkleidung und eine Pommesbude. Es riecht nach altem Fett, Zigarettenrauch und Herbstlaub. Der Blick ins Platzrondell mit dem Friedensengel ist durch einen dicken Bauzaun versperrt: Baustelle. Irgendwo dahinter ist der Landwehrkanal mit dem U-Bahnhof Hallesches Tor.
Nicht nur städtebaulich ist das Quartier eine wilde Mischung. An der südlichen Friedrichstraße liegt das Café Westberlin mit seinen Laptoparbeitsplätzen neben dem Laden des Obdachlosenmagazins Motz. In direkter Nachbarschaft: ein Textildiscounter, ein Touristenimbiss, ein Laden mit italienischen Kitschmöbeln in Gold. Während die meisten Altbauquartiere des Stadtteils inzwischen saniert und aufgewertet sind, gibt es sie in der südlichen Friedrichstraße noch: die berühmte Kreuzberger Mischung.
Neben der taz, die ihr Grundstück in der Friedrichstraße vom Land gekauft hat, um den Medienstandort im alten Zeitungsviertel zu stärken, haben drei Projekte erst ein Konzept vorlegen müssen, um den Zuschlag zu erhalten. Das war ein Novum: Nicht der Bieter mit dem dicksten Geldbeutel bekam für die Baufelder rund um den ehemaligen Blumengroßmarkt den Zuschlag, sondern der mit der besten Idee für den Ort. Deshalb entstehen hier keine Luxuswohnanlagen oder Konzernbüros, sondern drei Baugruppen mit Ateliers, Gewerberäumen und Projekträumen: das „Kunst- und Kreativquartier“ am Blumengroßmarkt.
Bitte mehr Sensibilität!
In der Bauhütte wollen sich die Kreativen mit dem Kiez bekannt machen und vernetzen. Das klappt nicht immer optimal. Karin Lücker-Aleman zum Beispiel freut sich auf die neuen Nachbarn. Gleichzeitig wünscht sich die Geschäftsführerin des Nachbarschaftscafés Süd am Mehringplatz mehr Sensibilität für das Bestehende. „Die Bauhütte will einen Flohmarkt organisieren“, sagt Lücker-Aleman. „Warum kommen die nicht zu uns? Wir machen schon jeden ersten und dritten Samstag am Mehringplatz einen Flohmarkt. Da könnte man doch zusammenarbeiten!“
Seit Anfang 2015 betreibt das Café Süd neue Räume am Mehringplatz 10, es hat sich inzwischen zum Kiezcafé gemausert. Wer wissen will, was in der Ecke passiert, ist hier richtig. „Der Mehringplatz ist wie ein Dorf“, sagt Lücker-Aleman. Dennoch glaubt auch sie daran, dass die Veränderungen in der Südlichen Friedrichstadt notwendig sind. „Je mehr Mischung es gibt, desto mehr Lebensmodelle stehen zur Verfügung. Das ist ein Gewinn, auch für die bildungsfernen Haushalte hier.“
In der Antenne, dem Jugendclub der Kreuzberger Musikalischen Aktion (KMA), entdecken Kinder aus der Umgebung ihre Talente: Breakdance, Schlagzeug, Gitarre, Nähen, Ballett, alles kostenlos. Im Keller des Betonbaus proben Bands, in der „Chill Lounge“ spielen ein paar Halbwüchsige Kicker oder albern mit ihren Handys auf bunten Sitzsäcken herum. Oben im Nähraum verteilt ein Mädchen im Grundschulalter saure Pfirsichbonbons an alle – und stopft sich selber schnell welche in den Mund. Mareike Stanze seufzt: „Eigentlich bräuchten wir auch eine Ernährungsberatung.“ Die Koordinatorin erzählt von Kindern, die statt eines Mittagessens von den Eltern 30 Cent in die Hand gedrückt kriegten – für chinesische Tütensuppen, die Nudeln roh in die Gewürzmischung gestippt.
Hohe Betriebskosten
Auch Mangel an Bewegung plagt die Kinder im Quartier: Viele Familien quetschen sich auf engstem Raum zusammen. Durch den enormen Sanierungsstau der 60er- und 70er-Jahre-Bebauung explodierten die Betriebskosten. Stanze erzählt von Rundschreiben einer Wohnungsbaugesellschaft, die Familien anweist, nur einmal die Woche warm zu duschen.
Die meisten der ca. 2.500 Wohnungen im Quartier sind Sozialwohnungen. Fällt ein Familienmitglied aus der Hartz-IV-Bedarfsgemeinschaft heraus, muss die Familie umziehen. Das heißt in den meisten Fällen: weg aus dem Kiez. Denn besonders die kleineren Wohnungen in verkehrstechnisch hervorragender Innenstadtlage sind begehrt.
„Einige unserer Kinder kommen immer noch beinahe täglich zu uns, obwohl sie mittlerweile in Spandau oder Neukölln leben“, berichtet KMA-Gründer Wolfhard Schulze, der seit den 80er Jahren das Ziel verfolgt, Kreuzberger Kinder durch Musik und Bewegung aus der Perspektivlosigkeit zu holen. Ob die neue Nachbarschaft dazu beitragen könnte? „Wenn die taz ein paar Praktikumsplätze bereitstellen würde, schon“, schaltet sich Mareike Stanze ein. Nur ein aktives Zugehen der neuen auf die alte Nachbarschaft bewahre den Kiez vor der endgültigen Zweiteilung in Arm und Reich.
Auch städtebaulich steht der Mehringplatz vor einem neuen Kapitel. Wenn im kommenden Jahr die Sanierung der U-Bahn-Eingänge beendet sein wird, startet ein Wettbewerb zur Umgestaltung des Platzes. Der Baustadtrat von Friedrichshain-Kreuzberg, Hans Panhoff (Grüne), sowie der Sanierungsbeirat im Sanierungsgebiet Südliche Friedrichstadt erhoffen sich davon im wahrsten Sinne der Wortes einen Durchbruch: Noch schottet die kreisförmige Bebauung des Platzes das ganze Quartier nach Süden hin ab. Nach den Kriegszerstörungen wollte Architekt Hans Scharoun mit dem inneren und äußeren Kreis der Bebauung an die Gestalt des alten Rondells anknüpfen, das im 18. Jahrhundert nach dem Pariser und dem Leipziger Platz als einer der drei schönsten Plätze Berlins galt.
Leben heißt hier leiden
Spätestens seit dem Fall der Mauer und der Wiedervereinigung der Friedrichstraße gilt der Riegel, der den Mehringplatz vom Halleschen Tor abschottet, als Hindernis. Deshalb soll er abgebaut werden. Für Stadtrat Panhoff ist das Ziel klar: „Wir wollen, dass die Bebauung keine Barriere mehr für einen Besuch darstellt.“ Eine Öffnung nach Süden? Verglasung der so genannten Luftgeschosse und Schaffung kleiner Gewerbeflächen? Das Landesdenkmalamt ist dagegen. Auch das Quartiersmanagement, das 2005 eingesetzt wurde, um dem Problemquartier auf die Beine zu helfen, pocht auf eine behutsame Sanierung dieser Bauten der Nachkriegsmoderne.
Herbert und Marita Schulze wohnen seit 15 Jahren in dem quer über den Platz gespannten Riegel. „Maisonette, Licht von zwei Seiten, Tiefgarage – eigentlich ist das hier Wohnkultur, die man nicht zerstören sollte“, sagt Herr Schulze, ein Journalist in Rente, der in Wirklichkeit anders heißt. Er zeigt zum Balkon, aus dem viel gepflegtes Grün rankt. Eigentlich?
Billigläden und Spielsalons
„Tja“, sagt Schulze. „Am Mehringplatz leben heißt leiden lernen.“ Seit ihrem Einzug sei der Platz immer mehr verkommen: Billigläden, Spielsalons, schon morgens die Trinker, die sich direkt unter dem Wohnzimmer der Schulzes am U-Bahn-Schacht festhielten wie am Tresen. Das Quartiersmanagement, das sich seit 2005 um das Problemquartier kümmert, hat den Trinkern inzwischen zwar eine eigene Ecke an der Straße eingerichtet, mit Miettoilette und Bänken. Aber viel besser wurde es nicht: Erst kürzlich wurde Schulze direkt vor seiner Haustür von einem Zugedröhnten verprügelt – weil er im Weg war. Der Polizeibeamte, bei dem Schulze Anzeige erstattete, habe nur gesagt: „Ziehen Sie weg!“
Um den früheren Blumengroßmarkt entstehen sechs Gebäude. Neben der taz, der Agentur Landau Media und der Ärztekammer ziehen drei Baugruppen ein
„FRIZZ23“ ist die bundesweit erste Baugruppe, die für kulturelles Gewerbe baut: Büros, Ateliers, Werkstätten.
Im Metropolenhaus soll ein „Interkulturelles Mosaik“ entstehen, mit 70 Prozent Wohnen und kleinteiligem Gewerbe.
Pech hatte das „Integrative Bauprojekt am ehemaligen Blumengroßmarkt“ (IBEB): In der Baugrube fand man Fliegerbomben. Das IBEB erstellt Wohnungen, Ateliers und Gewerbe. (api)
Das aber wollen die Schulzes nicht. Trotz des Baulärms, der seit Jahren kein Ende nimmt. Bei allem Leiden fühlen sie sich doch zu Hause.
Auch Ela Kagel fühlt sich am Mehringplatz zu Hause. Die Kulturwissenschaftlerin, die mit ihrer Plattform „Supermarkt“ schon in der Brunnenstraße die digitale Boheme und ein soziales Brennpunktviertel zusammengebracht hat, ist nun in das Rondell gezogen. „Wir sind hier gut von der Nachbarschaft aufgenommen worden“, freut sich Kagel. Das erste Event am neuen Ort ist schon in Planung. „Am 22. November werden wir die Shair Fair, eine Messe für Recycling und Abfallvermeidung, organisieren.“ Bei dem Treffen soll die Start-up-Szene mit der Berliner Stadtreinigung unter anderem über das Credo „Nutzen statt besitzen“ diskutieren.
Versteckte Hochzeitssäle
Stattfinden wird die Shair Fair in der Forum Factory, den Ausstellungs- und Veranstaltungsräumen des Forums Berufsbildung in der Charlottenstraße, das in unmittelbarer Nähe der Arbeitsagentur Weiterbildungen anbietet. Im Innern der Flachbauten gibt es aber auch fünf türkische Hochzeitssäle. Die Brautpaare sind die wichtigsten Kunden von Nejla Altiok. In der Charlottenstraße 3 betreibt sie ihr Geschäft mit dem Namen Ballon Fantasia. Sie verkauft alles, was zu einer türkischen Hochzeit dazugehört: Ballons, Girlanden, Dekorationen. „Mir gefällt es hier“, sagt sie. Allerdings gebe es Gerüchte, dass ein Investor das Areal kaufen will. Angst hat sie dennoch nicht. Denn: „Ich habe einen Mietvertrag.“
Und bald hat sie vielleicht neue Kunden. Gleich nebenan, in das ehemalige GSW-Gebäude samt Hochhaus, zieht im kommenden Jahr die Firma Rocket Internet ein. Rund 2.000 Medienarbeiter werden dann zusätzlich ins Quartier kommen. Das bedeutet neue Impulse, aber auch Gefahren, sagt Ela Kagel. „Ich wünsche mir nicht, dass hier die nächste Schickimickigegend entsteht.“
Dass es dazu kommt, glaubt taz-Geschäftsführer Karl-Heinz Ruch nicht. Die Mischung der Südlichen Friedrichstadt werde erhalten bleiben. Für Ruch, der mit der taz im Juni 1989 von der Weddinger Wattstraße in die damals im Mauerschatten liegende Kochstraße gezogen war, beginnt mit dem taz-Neubau auch eine neue Geografie. „Vor dem Fall der Mauer haben wir immer in den Osten Richtung Oranienstraße geschaut, weil dort sehr viele tazler gewohnt haben.“ Nach dem Fall der Mauer ging der Blick Richtung Norden, zum Checkpoint Charlie und zum Bahnhof Friedrichstraße. „Nun schauen wir in den Süden, weil dort die spannenden Sachen geschehen“, sagt er.
Wunde wird geschlossen
Auch Ruch findet, dass dieser Süden lange Zeit eine Brache war, ein zerstörtes Quartier, in dem sich bald die Probleme häuften. „Nun aber wird um den Blumengroßmarkt eine Wunde geschlossen.“
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