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Die Flucht berlinert, das Mitgefühl trägt Rastalocken

THEATER "Alle da", nach einem Jugendbuch von Anja Tuckermann, widmet sich im Atze-Musiktheater den Entwurzelten

„Derzeit gibt es über 30 Kriege auf der Welt.“ Afghanistan: Brumms! Ein Paar Stiefel platzt mitten auf die ausgeleuchtete runde Bühne im Atze-Theater. Irak. Das nächste Paar kracht nicht weit davon. Und dann noch ein Paar und noch eins. Libyen. Nigeria. Syrien. Ukraine. Buff! Bumm!! Peng!!! Schon ist die kleine Bühne vollgestopft mit altem kaputtem Schuhwerk. Fremde schwere Stiefel auf einer schneeweißen Spielwiese. Endloser Augenblick bedrückter Stille. Dann werden die Schuhe einfach weggewischt. Weggeballert. Eliminiert. Erleichterung im Saal.

„Alle da!“ heißt das neue Stück des Atze-Kinder-Musiktheaters. Die Premiere am3. Oktober, dem Tag der Wiedervereinigung, war symbolbehaftet, geht es doch in dem Stück nicht um Vereinigte und Be­heimatete, sondern um Entwurzelte und Vertriebene. Inspiriert durch das gleichnamige, mehrfach preisgekrönte Kinderbuch von Anja Tuckermann, willdas Stück „allen Menschen über 10“ das Elend und den Kriegswahn auf der Welt begreiflich machen. Aber auch die Einzigartigkeit und die Verletzbarkeit unseres Planeten, die faszinierende Vielfalt der Kulturen und Sprachen auf ihm. Zu weit gegriffen?

Die Regisseurin Göksen Güntel zaubert eine hinreißende Collage aus gespielten Szenen, live gedrehten Videosequenzen, Interaktionen, Zeitungsartikelpassagen und weisen Zitaten zusammen, unter anderem von Erasmus von Rotterdam, Martin Luther King, Alexander Gerst. Das ist kein gängiges Kinderformat, und es ist verblüffend, wie das funktioniert. Zu verdanken vor allem den drei großartigen Schauspielern, die unter größtem Kör­pereinsatz unentwegt in immer neue Rollen schlüpfen. Mal als As­tronauten, die irdische Feuergefechte aus dem Weltall ausmachen. Mal als Fliehende, die am Rande der Erschöpfung durch die Meere waten. Mal als feiernde Kinder. Und mal schlicht als Krieg, Flucht und Empathie, das Mitgefühl.

Ein eingespieltes Team

Der Krieg hetzt und hechelt, die Flucht berlinert und das Mitgefühl hat Rastalocken und ein Stoffbaby auf dem Arm. Es wird geflüstert, gerappt, gestottert, gegrölt, was das Zeug hält, und das nicht nur auf Deutsch. „Eine vertraute Sprache ist wie ein Zuhause.“ „6.500 gibt es davon auf der Welt.“ Als eine längere Passage auf der Bühne auf Türkisch erklingt, kommt aus der zweiten Reihe ein lautstarkes skeptisches „Na ja!“. Der Saal explodiert. Während alles noch vor Vergnügen bebt, nimmt der Schauspieler einen neuen Anlauf. Diesmal rezitiert er den Text mit der Verve eines gefeierten Stars. Als er fertig ist, starrt alles auf den kleinen Frechling in der zweiten Reihe. Dieser quittiert die Aufmerksamkeit mit Schweigen. Groß und Klein lachen erneut, es geht weiter. Nun sind auch die Zuschauer ein eingespieltes Team. Die Magie des Theaters. Wo sonst ist das Leben so echt? Mitten im bunten Treiben geht plötzlich das grelle Saallicht an. „Du sollst jetzt bitte gehen!“, lautet eine eiskalte Ansage über Lautsprecher. Alles erstarrt. „Kannst du bitte gehen!“, schallt es erneut. Nach kurzem Verhandeln darf der Schauspieler dann doch noch so lange bleiben, bis das Stück vorbei ist. Ein Schreckerlebnis, das in die Knochen geht.

„Man geht aus dem Stück anders raus, als man reingegangen ist“, sagte bei der Premierenfeier İlkin Özışık, der bildungspolitische Sprecher der SPD-Fraktion im Abgeordnetenhaus. Na dann, noch sind sie alle da! Jarina Kajafa

Die Schulaufführungen von „Alle da!“ sind bis Januar 2016 ausverkauft. Nächste Familienvorstellung 21. November

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